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Sir Simon Rattle im Interview "Tristan ist ein Suchtmittel"

Pure Ekstase: Musik aus Wagners "Tristan und Isolde" steht auf dem Programm des BRSO, geleitet von Chefdirigent Sir Simon Rattle. Außerdem erklingt eine Uraufführung - bei der sich Komponist Thomas Adès mit Rattle einen kleinen Scherz erlaubt.

Sir Simon Rattle Dirigent | Bildquelle: © Oliver Helbig

Bildquelle: © Oliver Helbig

BR-KLASSIK: Herr Rattle, "ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust" – das sind die letzten Worte in Richard Wagners "Tristan und Isolde". Isolde singt sie im "Liebestod", den Sie mit dem BRSO in der Orchesterfassung aufführen. Seltsame Worte – wie hängen Lust und das Unbewusste zusammen?

Sir Simon Rattle: Tja, das ist Wagners These. Was er damit meint, ist ein Zustand der Ekstase. In gewisser Weise verbindet das alle drei Stücke unseres Programms. Ebenso wie das Thema Wasser. Um Wasser, das sich bewegt, geht es in allen drei Werken: Wagners "Liebestod", "Aquifer" von Thomas Adès und Beethovens "Pastorale". Im "Liebestod" geht es um diese ganz besondere Vorstellung von Ekstase, die Wagner aus der Philosophie von Schopenhauer übernommen hat. Und ja, diese Form von Ekstase gibt es, die kann man erleben.

BR-KLASSIK: "Unbewusst" – was Wagner da sagt, bedeutet ja eigentlich, dass man das Gehirn ausschalten muss, um höchste Lust zu empfinden. Um diesen Zustand zu erreichen, will Isolde alles ausschalten, was nach Vernunft und Aufklärung riecht, sie will die totale Entgrenzung.

Sir Simon Rattle: Aber gleichzeitig geht es doch darum, dass wir alle darauf warten, wie sich ein Akkord auflöst – der Tristanakkord. Ein Akkord, der eine Frage stellt. Vier Stunden warten wir auf die Auflösung. Das ist das Außergewöhnliche daran. Es ist der größte, längste und revolutionärste Auftakt der Musikgeschichte. Du beginnst im Vorspiel mit der Melodie in den Celli – und mehr als vier Stunden später findest du endlich Ruhe, dort, wohin die Harmonik die ganze Zeit über gedrängt hat. Und egal, wie oft man es spielt – es bleibt jedes Mal ein Schock. Ich hatte mittlerweile Gelegenheit, einige Handschriften von Wagner zu studieren. Er war ja immer sehr stolz auf seine saubere Notenschrift. Und er verschenkte gerne Abschriften eigener Werke, die er selbst mit der Hand schrieb. Aber wenn man das Autograph von "Tristan" sieht, dann ist das etwas völlig anderes. Alles zittert. Die Taktstriche schlingern, nichts ist gerade. Es ist schneller aus ihm rausgeströmt, als er es hinschreiben konnte. Es ist die Handschrift eines Besessenen. Und es sieht genauso aus, wie die Musik klingt: unglaublich verfeinert und zugleich völlig aus der Balance.

Simon Rattle über die "Gefahr" von Wagners "Tristan"

BR-KLASSIK: Es gibt ja schreckliche Beispiele aus der Aufführungsgeschichte, wo Sänger oder Dirigenten quasi an dieser Musik gestorben sind.

Simon Rattle dirigert das BRSO bei Klassik am Odeonsplatz 2022 | Bildquelle: Marcus Schlaf Chefdirigent Sir Simon Rattle leitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. | Bildquelle: Marcus Schlaf Sir Simon Rattle: Das ist etwas, was sich Wagner nie verziehen hat – dass der Tenor so kurz nach der Uraufführung starb. Und dass Wagners Musik damit wahrscheinlich etwas zu tun hatte. Die Rolle des Tristan ist weit jenseits des Menschenmöglichen – ganz zu schweigen von unseren Möglichkeiten, all das zu begreifen. Ich erinnere mich sehr genau an meine allererste Aufführung der gesamten Oper, besonders an die Generalprobe. Ich hatte die ganze Zeit das starke Gefühl – und ich musste dagegen ankämpfen –, dass ich nach der Aufführung völlig zerstört und schluchzend auf dem Podium liegen würde. Diese Musik ergreift Besitz von dir – auf eine absolut nicht gesunde Weise. Wenn du zwei "Tristan"-Produktionen im Jahr machst, dann steht der Wahnsinn kurz vor der Tür. Und das soll auch so sein. Also: Ja, diese Musik ist immer noch so gefährlich. Es ist ein Narkotikum, ein Suchtmittel, kein Zweifel. Auch wenn man nur das Vorspiel und den "Liebestod" spielt. Schauen Sie, das ist der längste Strich, den es im Repertoire überhaupt gibt. Du spielst die acht Minuten des Vorspiels, dann: Schnitt! Mehr als dreieinhalb Stunden Musik lässt du weg und dann kommt der "Liebestod", die letzten sechs Minuten der Oper. Aber es erzählt eine Geschichte und hat, nur für sich genommen, eine unglaubliche Verlaufskurve.

Diese Musik ergreift Besitz von dir – auf eine absolut nicht gesunde Weise.

BR-KLASSIK: Ganz anders ist das Gefühl von Überwältigung bei Thomas Adès, dessen Werk "Aquifer" Sie mit dem BRSO uraufführen.

Sir Simon Rattle: Das Stück habe ich gerade erst in die Hand bekommen. Sowas kommt vor bei manchen Komponisten. Andere werden Jahre vor der geplanten Uraufführung fertig. Oliver Knussen war der späteste aller Zeiten. Als wir am Tag vor dem Konzert gerade die Probe beendet hatten, erschien seine Frau mit dem Stück in der Hand. Und ich musste das Orchester fragen: Können wir das spielen? Und die sagten: na gut. Wir hatten schon ein Ersatzstück aufs Programm gesetzt. Also – das kommt vor. Interessant ist, dass Tom (Thomas Adès) genau wissen wollte, welche Stücke sonst noch auf dem Programm stehen. Zuerst hatten wir an Schumanns Zweite gedacht. Wir haben es ausgetauscht, weil die Carnegy Hall meinte, dieses Stück sei nicht populär genug für das New Yorker Publikum. Ich fand das erschreckend. Auf der anderen Seite: Jetzt haben wir diesen roten Faden, dass es in allen Stücken um Wasser geht. Der "Tristan" spielt auf einem Schiff, der Titel "Aquifer" bedeutet "wassertragendes Gestein", also Wasser in einer geologischen Schicht, das trotzdem fließen kann.

Konzerte des BRSO in München

Konzerte des Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Leitung: Sir Simon Rattle
14. und 15. März 2024, 20:00 Uhr
Herkulessaal, Münchner Residenz
Richard Wagner: Vorspiel und Liebestod aus "Tristan und Isolde"
Thomas Adès: "Aquifer" (Uraufführung)
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 6 F-Dur, op. 68 ("Pastorale")

BR-KLASSIK überträgt das Konzert am 15. März 2024 ab 20:00 Uhr live im Radio.

Und Wasser spielt auch in Ludwig van Beethovens "Pastorale" eine Rolle – in der "Szene am Bach", dem zweiten Satz, wo man die kleinen Wellen über die Steine rieseln hört. Das Gewitter im vierten Satz zähle ich gar nicht mit – denn ich glaube, darin geht es nicht um ein Wetterphänomen. Es hat mehr mit der Psychologie zu tun. Mit der Erfahrung von Todesangst und Überleben. Um den puren Schrecken, der in Beethovens Herz lebte. Die Gefühle nach dem Sturm, die danach im letzten Satz beschrieben werden, sind wie ein Gespräch in einer Menschengruppe, die gemeinsam eine Gefahr überstanden hat und sich darüber klar wird, dass nicht alle überlebt haben. So höre ich diese Musik. Es glüht, aber es klingt auch verzweifelt. Wie kann F-Dur nur so traurig klingen? Aber gut, Beethoven kann das halt.

Beethovens Musik zeigt, wie der Mensch auf die Natur reagiert

BR-KLASSIK: Es sind also Naturbilder, die sehr viel über die menschliche Seele erzählen – sowohl bei Thomas Adès als auch bei Beethoven.

Sir Simon Rattle: Es ist der Mensch in der Natur. Wie der Mensch auf die Natur reagiert. Das kann eine Regung in einer menschlichen Seele sein – oder auch ein Gemälde von Pieter Bruegel. Was man im dritten Satz der "Pastorale" hört, hat Bruegel oft gemalt.

BR-KLASSIK: Die "Bauernhochzeit".

Sir Simon Rattle: Absolut!

Beethoven wäre entsetzt, wenn er wüsste, was mit dem Planeten in der Zwischenzeit geschehen ist.
Sir Simon Rattle

 BR-KLASSIK: Heute, um nochmal die Zeitebene zu wechseln, hat sich unser Verhältnis zur Natur stark verändert. Wir haben den Klimawandel, die Umweltzerstörung – all das kannte Beethoven nicht, scheinbar eine glücklichere Zeit. Wie verändert dieses Wissen die Perspektive auf Beethovens Musik?

Sir Simon Rattle | Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics Sir Simon Rattle spielt am Ende des Stücks "Aquifer" selbst im Orchester mit - an der Ratsche. | Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics Sir Simon Rattle: Ich glaube, Beethoven wäre entsetzt, wenn er wüsste, was mit dem Planeten in der Zwischenzeit geschehen ist. Und in "Aquifer" von Thomas Adès gibt es immer wieder Gegenden, die von Wagner'scher Düsternis überschattet sind. Auf der anderen Seite ist es auch eine große Feier der orchestralen Möglichkeiten, wie so viele Musikerinnen und Musiker zusammen grooven können. Was mich erstaunt an dieser Partitur, in der so oft das gesamte Orchester gleichzeitig spielt, ist die Durchsichtigkeit. Man sieht trotzdem alle diese Farben ganz klar und deutlich abgegrenzt. Während wir sprechen, sind wir ja noch ganz am Beginn der Proben. Da oben auf der Bühne sehen Sie eine große Ratsche, auf Englisch sagen wir "football rattle". Auf der letzten Seite, wo wir auf einem geradezu skandalösen C-Dur-Akkord landen, kommt die große Ratsche zum Einsatz. Das ist natürlich ein kleiner Witz von Tom. Wir gehen damit ja auf Tour in die USA. Man kann das Stück mit fünf Schlagzeugern spielen. Nur in den letzten fünf Takten braucht man zusätzlich einen, der die Ratsche spielt. Da sagten die Schlagzeuger: Simon, würdest du die Ratsche übernehmen – would you be the big rattle? Also, ich mache das. Das ist einfach typisch Tom!

BR-KLASSIK: Ob Dirigenten, die nicht so heißen wie Sie, das überhaupt spielen können?

Sir Simon Rattle: Ich kenne ihn halt, seit ich 21 war. Mehr als 30 Jahre ...

BR-KLASSIK: British humour.

Sir Simon Rattle: Ja. Eine seltsame Sache. Aber offenbar existent.

Das Gespräch führte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.

Sendung: "Leporello" am 14. März 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Sendung:
"Live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz - Das Symphonieorcheser des Bayerischen Rundfunks" am 15. März 2024 ab 20:00 Uhr auf BR-KLASSIK

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Freitag, 15.März, 11:40 Uhr

Walter Lange

Luchino Viscontis "LUDWIG II." gibt wertvolle Einblicke in das Bayern von 1864 /65. Insbesondere auch über Tristan und Richard Wagner, vorzüglich dargestellt von Trevor Howard, der auch in der sicherlich schwierigen Szene mit dem weißen Bernhardiner sein überdurchschnittliches Talent beweist.

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