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Jazzpianist Joachim Kühn wird 80 Der kantig-wilde Sound der Freiheit

Einer der weltweit bekanntesten Jazzmusiker aus Deutschland wird 80: der am 15. März 1944 in Leipzig geborene Pianist Joachim Kühn. Seit Mitte der 1960er Jahre gehört er zu den herausragenden Musikern des zeitgenössischen Jazz. Im April wird er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhalten: für seine Musik, die immer erstklassig geblieben ist.

Joachim Kühn | Bildquelle: Act

Bildquelle: Act

Eine lockige Künstlermähne wie Beethoven auf berühmten Porträts – und eine mitreißende musikalische Kraft: Wenn Joachim Kühn an den Tasten sitzt, den Kopf gesenkt und hochkonzentriert, dann entsteht Musik von machtvoller Dichte und kantiger Schönheit. Improvisierte Töne, die sich nie glätten haben lassen: immer ein Maximum an Ausdrucksfreiheit und persönlicher Note. Musik, die für Kompromisslosigkeit und Nonkonformität steht. Und die so persönlich klingt wie kaum eine andere. "Die spielen einen Ton, und du kannst sagen, wer es ist. Der Sound ist beinahe wichtiger als die Note selber." Das hob Joachim Kühn in einem Interview über große Kollegen wie die beiden Saxophonisten Archie Shepp und Pharoah Sanders hervor. Doch es trifft auch auf ihn zu: Er ist ein Musiker mit völlig eigener Kontur.

Deutscher Jazzpreis für das Lebenswerk

Klarinettist Rolf Kühn und sein Bruder, Painist Joachim Kühn. | Bildquelle: Jens Herrndorff Rolf und Joachim Kühn | Bildquelle: Jens Herrndorff Letztes Jahr wurden seine raren Konzerte bereits als Abschieds-Vorstellungen beworben, und der Pianist selbst sagte gegenüber der Presse, er reise einfach nicht mehr gern. Zum Glück sind Künstler manchmal inkonsequent. Und die Fans des großen deutschen Jazzpianisten Joachim Kühn können sich dieses Jahr auf Konzerte etwa in der Elbphilharmonie, im Stuttgarter Theaterhaus und in der Berliner Philharmonie freuen. Seit über fünf Jahrzehnten ist Joachim Kühn ein international berühmter Jazzmusiker. Er gehört zu den weltweit bedeutendsten deutschen Vertretern des Genres. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt zusammen mit seinem älteren Bruder, dem Klarinettisten Rolf Kühn mit dem renommierten Deutschen Jazzpreis; für ihr Lebenswerk erhielten die beiden diesen Preis, den aber nur noch der jüngere entgegennehmen konnte. Rolf Kühn, geboren 1929, starb im August 2022 im Alter von 92 Jahren. Joachim Kühn hat in Hamburg, Paris und in den USA gelebt und wohnt inzwischen seit längerem auf der Balearen-Insel Ibiza. Heute vor 80 Jahren – am 15. März 1944 – ist Joachim Kühn in Leipzig geboren.

"Im Schlafwagen Getürmt" aus der DDR

Er und sein Bruder stammten aus einer Artistenfamilie. Als er noch im Kinderwagen lag, spielte ihm sein 14 Jahre älterer Bruder Rolf schon Klarinette vor. Doch der ging bereits Ende der 1940er Jahre in den Westen und machte als Musiker Karriere, unter anderem in den USA beim Orchester von Benny Goodman; er kam aber in den frühen 1960er Jahren nach Deutschland zurück. Joachim Kühn hingegen wuchs in der DDR auf, wo schnell seine große Klavierbegabung auffiel. Er sah aber in der DDR keine Perspektive für sich. In einem BR-Klassik-Interview sagte er: "Dass ich mal da raus will, das stand ja für mich immer fest. Meine Eltern waren alt genug, die durften auch raus. Nur ich war das Problem. Und dann hat der Rolf daran gedreht, dass Friedrich Gulda mich zu seinem Wettbewerb nach Wien eingeladen hat. Und ehe die Bonzen in Leipzig das gemerkt haben, war ich schon weg. Ich kriegte Montag einen Anruf: 'Visum ist angekommen, sofort nach Berlin kommen von Leipzig'. Dienstag ging der Nachtzug nach Wien. Ich bin also praktisch im Nachtzug, im Schlafwagen getürmt."

Joachim Kühn auf BR-KLASSIK

Anlässlich des 80. Geburstages von Joachim Kühn sendet BR-KLASSIK zwei Sendungen

  • am 15. März 2024, um 23:05 Uhr, Jazz extra: Der freie Radikale des deutschen Jazz - Pianist Joachim Kühn wird 80. Musik und Momente aus einer sechs Jahrzehnte umspannenden, internationalen Karriere – mit Originaltönen aus verschiedenen Interviews sowie Aufnahmen mit Rolf Kühn, Daniel Humair, Archie Shepp und anderen. Moderation und Auswahl: Roland Spiegel
  • am 16. März 2024, um 18:05, Jazz und mehr: Die Kühnen - Mit Musik von Joachim Kühn, Rolf Kühn, Lisa Wulff, Hamilton de Holanda, Michael Wollny und andern. Moderation und Auswahl: Roland Spiegel

Das Hervorragende Trio mit Humair und Jenny-Clark

Im Mai 1966 fand der erwähnte Wettbewerb statt. Er hieß "International Competition for Modern Jazz", und "Vienna 1966" stand auf Plakaten von damals. Joachim Kühn wurde zu einem der expressivsten Jazzpianisten aus Europa, er spielte Rockjazz und Free Jazz, profilierte sich mit enorm energiegeladenen Solokonzerten und hatte ein europaweit gefeiertes, musikalisch hoch-energetisches Trio mit Bassist Jean-Francois Jenny-Clark und Schlagzeuger Daniel Humair. Aufnahmen wie die des Stücks "Guylène" aus dem Jahr 1985 (aus dem Album "Easy to read") dokumentieren eine Trio-Intensität, die noch fast vierzig Jahre später sofort mitreißt. Nicht umsonst galt dieses Trio in den 1980er Jahren und darüber hinaus als eines der besten Jazz-Klaviertrios der Welt. Etwa beim Jazzfest Berlin 1987 überstrahlte dieses Trio Vieles – in einem hochkarätigen Festivalprogramm, in dem immerhin auch Künstler wie Chick Corea, George Shearing oder die Saxophonisten Joe Henderson und Michael Brecker in hervorragenden Auftritten zu erleben waren.

Idole: Von Ornette Coleman bis zurück zu Bach

In einem musikalischen Leben wie dem von Joachim Kühn gibt es so viele bedeutende Stationen, dass man bei weitem nicht alle nennen kann. Joachim Kühn hat Konzerte in unterschiedlichsten Konstellationen gegeben, hat mit Idolen wie Archie Shepp, Pharoah Sanders und nicht zuletzt der Free-Jazz-Ikone Ornette Coleman gespielt, vor dessen Musik er sich bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder verbeugte – etwa mit dem Album "Melodic Ornette Coleman" von 2019, auf dem er Coleman-Kompositionen wie "Lonely Woman" in innig-intensiven Solo-Aufnahmen interpretierte. Als ein besonderes Highlight seiner Karriere bezeichnet Joachim Kühn selbst eine Zusammenarbeit mit dem Leipziger Thomanerchor im Jahr 2001. Dabei entstand das Album "Bach now!" Joachim Kühn improvisierte dabei über Chormusik von Johann Sebastian Bach, den er besonders schätzt, nicht nur weil Kühn an Bachs langjährigem Wirkungsort Leipzig geboren ist.

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Kuhn: Klavierimprovisation über "Komm, Jesu, komm" (Live) | Bildquelle: Joachim Kühn - Topic (via YouTube)

Kuhn: Klavierimprovisation über "Komm, Jesu, komm" (Live)

Mit Bruder Rolf in New York: Der traurigste Tag

Weitere Höhepunkte waren für Joachim Kühn immer wieder die gemeinsamen Konzerte und Auftritte mit seinem Bruder Rolf Kühn. Im Juli 1967 entstand in New York eine voller Intensität und Ausdruckskraft steckende Einspielung der beiden – zusammen unter anderem mit dem Bassisten Jimmy Garrison aus der Band des Saxophon-Revolutionärs John Coltrane. Diesen Musiker, einen der größten Instrumentalisten der Jazzgeschichte, wollten die beiden eigentlich bei ihrem New-York-Aufenthalt treffen. Doch dazu kam es nicht: John Coltrane starb am 17 Juli 1967 im Alter von nur 40 Jahren. Die Aufnahmen des Albums  "Impressions of New York" entstand nur zehn Tage danach – und in der brodelnd intensiven Musik ist auch viel Aufgewühltheit zu spüren, gerade in dem Stück "The Saddest Day".

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Impressions Of New York: Arrival / The Saddest Day / Reality (Pt. 1 / Edit) | Bildquelle: Rolf And Joachim Kühn Quartet - Topic (via YouTube)

Impressions Of New York: Arrival / The Saddest Day / Reality (Pt. 1 / Edit)

Freiheitsdrang und Beseeltheit

Aufnahmen wie diese zeigen eine ganz besondere Qualität der Musik von Joachim Kühn: Sie steckt voller Hingabe. Nur wenige Jazzmusiker sind so stark wie er in der Lage, ihre Wertschätzung für andere Musiker in bewegende Töne zu übersetzen. Auf der jüngsten Veröffentlichung Joachim Kühns, dem Album "Duo" mit dem 34 Jahre jüngeren Klavier-Kollegen Michael Wollny ist als letztes Stück eine besonders innige und bewegende Komposition zu hören: Sie heißt "My Brother Rolf" und entstand als Hommage an den Bruder, der im August 2022 nach einem schweren Sturz starb. Musik mit Seele: Dafür steht der Klaviersound Joachim Kühns besonders – und für einen nie versiegenden Freiheitsdrang, der sich in den energiegeladenen Tönen des Pianisten noch genau so intensiv entlädt wie in 1960er Jahren rund um die Flucht aus der DDR.

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Joachim Kühn : My brother Rolf | Bildquelle: France Musique concerts (via YouTube)

Joachim Kühn : My brother Rolf

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