Er war ein Stolz der Münchner Szene: ein Virtuose von internationalem Format in der Disziplin des Scatgesangs. Diese Kunst, die Silben zum swingenden Tanzen bringt, verband er mit hinreißendem Humor. 1957 kam Willi Johanns, ein Urgestein des Jazzgesangs, nach München. Jetzt ist er, kurz nach seinem 90. Geburtstag, gestorben.
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In einer Zeit, in der jedem erdenklichen Gesang zwischen Pop, Country und Weltmusik das Mäntelchen "Jazz" umgehängt wird, war Willi Johanns das, was andere von sich glauben machen wollten: ein authentischer Jazzsänger. Seine Spezialität war der Scatgesang, die Improvisation mit Hilfe sinnfreier Silben, die rhythmisch und melodisch kunstvoll aneinandergereiht werden. Die Stimme wird dabei verwendet wie ein Instrument, und manchmal ahmt sie auch Instrumente nach. Weltweit berühmt gemacht haben diese Art zu singen amerikanische Größen wie Ella Fitzgerald oder das Gesangstrio Lambert, Hendricks & Ross, und schon Louis Armstrong "scattete", dies erstmals in einer Aufnahme von 1926. Es ist eine Kunst, die ein extrem hohes Können erfordert – und der Wahl-Münchner Willi Johanns hatte es. Wie jetzt bekannt wurde, ist Willi Johanns bereits Anfang der Woche im Alter von 90 Jahren gestorben. Am 26. Januar hatte die Jazzwelt ihn zu seinem 90. Geburtstag gefeiert.
Jon Hendricks | Bildquelle: Jon Hendricks Johanns war aus Hunderten von Sängern mit Treffsicherheit herauszuhören. Er sang Bebop – den rasanten, voller hektischer Tonsprünge steckenden Ur-Stil des modernen Jazz – mit eigenem Vokabular. Sein Stil hob sich von demjenigen amerikanischer Vorbilder deutlich ab. Sein größtes Vorbild war Jon Hendricks, eine der drei Stimmen von Lambert, Hendricks & Ross. Jon Hendricks geriet über den deutschen Kollegen ins Schwärmen. Voller Bewunderung sagte er: "Wenn du eine Person fern von den USA hörst, die sich das Hirn aus dem Leib scattet wie ein Muttersprachler, dann werden deine Ohren hellhörig und du wirst nicht eher ruhen, bis du herausgefunden hast, wer diese Person ist! So ging es mir, als ich einen deutschen Bebop-Sänger hörte: Willi Johanns." Hendricks, der mit dem auch "Mr. Bebop" genannten Willi Johanns oft die Bühne teilte, habe dem deutschen Kollegen bestätigt, dass er einen eigenen Ton gefunden hatte, sagte Johanns: "‘Du klingst nicht wie wir‘. Und darauf war ich sehr stolz."
Im brandenburgischen Fürstenwalde kam Willi Johanns am 26. Januar 1934 zur Welt, in Berlin und Ulm wuchs er auf. Sein Vater war Stabsmusikmeister der Wehrmacht und unterrichtete seinen Sohn im Klavierspiel. Er war ein gestrenger Zuchtmeister, der dem Sohn bei falschen Tönen schon mal mit dem Siegelring ins Genick schlug oder ihm gar den Klavierdeckel auf die Hände fallen ließ. Ein Unterricht, an den Willi Johanns nicht gern zurückdenkt – aber er brachte ihm gute harmonische Kenntnisse ein, die ihm ausgerechnet im Jazz zu Gute kamen. Der war im Hause Johanns allerdings unerwünscht. Willi hatte ihn eher zufällig entdeckt, als er 1944 auf einen "Feindsender" geriet und Ellingtons "Don't Get Around Much Anymore" hörte. Als sein Vater entdeckte, dass der Sohn nachts das Radio unter der Bettdecke versteckte, um Jazz zu hören, nahm er es ihm weg.
Den 90. Geburtstag von Willi Johanns feierte BR-KLASSIK mit zwei Sendungen:
Am 29. Januar und am 21. Februar, jeweils um 23:05 Uhr, in der Jazztime.
Dizzy Gillespie | Bildquelle: picture-alliance/dpa Durch amerikanische Soldaten kam Willi Johanns in den Nachkriegsjahren nicht nur mit einem neuen lässigen Lebensgefühl und Erscheinungen wie Kaugummi, Orangen und Comics in Berührung. Er konnte auch als Sänger in den Clubs der amerikanischen Streitkräfte in Neu-Ulm anfangen, zunächst im Walter Geiger Sextett. Doch der junge Mann, der im Elternhaus kaum Freiheit erfuhr und sie im Jazz suchte, fand sie dort nicht sofort. Er sang auf Publikumswunsch so "schöne Stücke wie 'Blue Moon' oder 'The Nearness of You'", doch um 23 Uhr sagten seine Kollegen zu ihm. "So, jetzt kannst Du an die Bar gehen. Wir wollen jazzen". Johanns "kochte dann vor Wut, weil ich natürlich genau das singen wollte, was sie anschließend gespielt hatten". Er sehnte sich nach der Freiheit der Instrumente, zog in Erwägung, Instrumentalist zu werden. Ein Konzert mit Dizzy Gillespie und seinem Sänger Joe Carroll wurde für Johanns 1953 zum Schlüsselerlebnis. Nun wollte er selbst so singen wie Caroll – er wollte "scatten".
Ich hatte keine Ahnung, wie schwer das ist
Lernen konnte Willi Johanns diese Art zu singen damals nur durch Hören von Platten, vor allem jene von Jackie Cain und Roy Kral, die seinerzeit bei Charlie Ventura sangen, dessen Band unter dem Motto "Bop for the People" stand. Er transkribierte Soli und sang sie nach, übte sich später in der Erfindung witziger Nonsense-Silben und eigener Chorusse zu Oscar-Peterson-Platten, arbeitete an Phrasierung und Intonation. "Ich hatte keine Ahnung, wie schwer das ist, vor allem bis man eine gewisse Freiheit hat, bis man – abgesehen davon, dass es harmonisch in Ordnung gehen muss – auch kleine Späßchen einbauen und zitieren kann. Ich habe einige Jahre gebraucht! Es ist etwas sehr, sehr Schönes, wenn man plötzlich mit den Musikern mithalten kann und man nicht runtergehen muss, sondern sie sagen: komm rauf".
Doch auch dann war noch Hartnäckigkeit vonnöten: "Ich habe in soundso vielen Clubs Lokalverbot bekommen, wenn ich Scat gesungen habe, weil die Leute einfach nicht begriffen haben, was das ist. Für die war es einfach bla bla bla bla bla. Erst als ich mit namhaften Bands gesungen hatte, hat man es akzeptiert. Es war Neuland in Europa. Die guten Scatsänger waren alle aus den USA." Was er machte, war so ausgefallen, dass Joe Kienemann, lange Zeit die Jazz-Radiostimme des Bayerischen Rundfunks, ihn noch 1983 als "einzigen europäischen Bebop-Sänger" bezeichnete.
Illustrationen zum Roman Der Geworfene Stein (in der Buchfassung nicht enthalten) von Willi Johanns (München 1964). | Bildquelle: Willi Johanns Weil er nicht der Familientradition folgen und Soldat werden wollte, "flog" Willi Johanns eines Tages "von Zuhause raus". Doch als Dekorateur und Schriftenmaler hatte der angehende Jazzsänger auch etwas "Anständiges" gelernt, das sich ebenso perfektionieren ließ. 1957 übersiedelte Willi Johanns von Ulm nach München, um an der "Von-Parish-Kunstschule" Malerei und Grafik zu studieren. Mit Scatgesang hätte er niemals seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Das Zeichnen von Comics, Storyboards für Werbefilme und Landkarten wurden sein Brotberuf. Er erlaubte ihm, das Singen als Hobby zu betreiben und bis in die Nacht hinein in Jazzclubs zu sitzen. Das tat er zunächst bei Rolf Kauka, dem Erfinder von "Fix und Foxi", dann bis 1999 im Goethe Institut.
München, wo Johanns zunächst mit dem Heinz Schellerer Sextett auftrat, war mit seinen vielen Spielstätten eine kleine Jazzmetropole. Der Schlagzeuger Freddie Brocksieper leitete bis 1958 das "Studio 15", wo Johanns täglich "eine Nummer singen durfte". Dort lernte er den Pianisten Otto Weiß kennen, der ihn 1960 auf seiner Single "Salute To Birdland" begleitete. Im "Studio 15" und in Brocksiepers nächsten Club, der "Reitschule" erlebte er Ella Fitzgerald, Lionel Hampton und Musiker der Big Bands von Duke Ellington und Count Basie. Brocksieper hatte nämlich die Gewohnheit, amerikanische Musiker, die im Kongress-Saal des Deutschen Museums Konzerte gaben, zu freiem Essen und Trinken in seinem Club einzuladen. Die unausgesprochene Hoffnung, sie würden auch zu einer spontanen Session einsteigen, wurde in der Regel erfüllt. Vollends zu Johanns' Jazz-Paradies wurde München mit dem "Domicile". Dieser legendäre, von 1965 bis 1981 existierende Club bot ihm Gelegenheit, mit renommierten internationalen Kollegen zusammenzuarbeiten. So wurden der Trompeter Dusko Goykovich oder die Saxophonisten Don Menza und Sal Nistico lebenslange Freunde.
Heinz Sauer | Bildquelle: Anna Meuer In den 60er Jahren machte Willi Johanns erste Erfahrungen mit Big Bands. Der Pianist Horst Jankowski, mit dem er in den Ami-Clubs gespielt hatte, holte ihn ins Orchester von Erwin Lehn. Einen Manager hatte er nie. "Ich habe ein Riesenglück gehabt. Ich bin jedes Mal von Musikern empfohlen worden und dadurch in die nächste Band gekommen." So war es Brocksiepers Klarinettist Fred Spannuth, dem er seinen ersten Festival Auftritt 1961 in Frankfurt verdankt. Von jenem Jahr an firmierte Johanns, der auch mit den Orchestern von Kurt Edelhagen und Max Greger zu hören war, oft bei deutschen Meinungsumfragen (etwa der Zeitschrift "Jazz Podium") als bester Jazzsänger. Damit war er das männliche Gegenstück zur herausragenden deutschen Sängerin Inge Brandenburg. Und wie seine Kollegin sah er schmählich selten ein Plattenstudio von innen. Beide verdanken vor allem öffentlich-rechtlichen Sendern die Dokumentation ihres Gesangs. Immerhin entstanden 1969 und 1971 Platten mit den "German All Stars" im "Domicile" im Anschluss an die Tourneen durch Lateinamerika und Asien. Sie stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass Willi Johanns ebenso wie der Posaunist Albert Mangelsdorff, der Saxophonist Heinz Sauer oder der Pianist Wolfgang Dauner der herausragende Vertreter seines Fachs war und dass er auch über den Tellerrand des Bebop-Stils hinauszuschauen vermochte.
Auf eigene Faust bereiste er in diesen Jahren die USA, wo er in New York mit Chubby Jackson in dessen Club "Open End" auftrat. Auch in Europa kam es oft zur Zusammenarbeit mit amerikanischen Kollegen. Mit dem Saxophonisten Pony Poindexter tat er sich gelegentlich zum Gesangsduo zusammen. Einmal berichtete sogar die amerikanische Jazzzeitschrift "Down Beat" davon, dass die beiden 1967 bei den Berliner Jazztagen mit dem Trompeter Clark Terry und dem Klarinettisten Tony Scott um die Wette scatteten. Johanns: "Es ist immer ein besonderes Erlebnis, wenn einer neben einem steht, der das auch macht – und ganz anders: Es sind andere Farben, andere Vokale, andere Möglichkeiten, die Stimme einzusetzen." Das konnte Johanns übrigens auch an der Seite von Jon Hendricks, Chet Baker, Mark Murphy und in jüngster Zeit Sheila Jordan erleben.
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Willy Johanns Bebop City / Mind Games / Almost Big Band - Jazzwoche Burghausen 1990
Dusko Goykovich | Bildquelle: Jan Scheffner Viele Jahre kannte man Willi Johanns fast nur als willkommenen und unermüdlichen Einsteiger unzähliger Sessions, und dies zeitweise fast täglich. Doch 1985 gründete er endlich mit dem Trompeter Dusko Goykovich die Combo "Bebop City". In ihr wechselten sich Andy Scherrer und Roman Schwaller auf dem Saxophon ab und Vince Benedetti und Cees Slinger am Klavier; Reggie Johnson und Thomas Stabenow lösten einander am Bass ab, während Alvin Queen relativ konstant der Drummer war – eine heißblütig zupackende Formation, die belegt, so formulierte es der Münchner Musikjournalist Baldur Bockhoff ("Süddeutsche Zeitung"), "wie man den Bebop lebendig, humorig, phantasievoll und vor allem swingend spielen kann." Mit Goykovich entstand auch das bislang einzige erhältliche Album unter eigenem Namen: "Scattin‘". Es kombiniert Turiner Aufnahmen von "Bebop City" aus dem Jahr 1987 mit denen der RTS Big Band Radio Belgrad von 2002. Darauf finden sich viele seiner Spezialitäten wie das Titelstück sowie "Moby Dick And The Swingin' Bananas" – zündende Kompositionen im Bebop-Stil der 1940er Jahre. Auch "I'd Rather Drink Muddy Water" darf nicht fehlen – ein Blues, der Jahrzehnte lang ein "Showstopper" bei seinen Auftritten war. Da wechselt er komödiantisch die Register für einen umwerfenden Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Saxophonist Roman Schwaller meinte 2003: "Willi Johanns' Scat-Interpretationen waren und sind für mich schon seit 25 Jahren das Ultimative an Melodik, Timing und Verständnis für diese fantastische Musik. Früher sagten wir jungen Musiker immer zueinander: Wie er singt, so müsste man spielen können! Ich kenne kaum einen Jazzmusiker, der so gut hört wie Willi. Hinzu kommt, dass er auch noch fähig ist, dies umzusetzen."
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I'd Rather Drink Muddy Water (Studio)
Als Johanns sich 2022 bei einem Sturz in seiner Wohnung verletzte und sich auch Atemprobleme einstellten, endete die Laufbahn von Deutschlands Scatsänger Nr.1. Er selbst glaubt nicht, dass er je wieder auf einer Bühne stehen werden könne. Bis zu seinem 88. Lebensjahr war Johanns an der Seite von um Jahrzehnte jüngeren Größen wie der Saxophonistin Carolyn Breuer, dem Pianisten Claus Raible oder dem Schlagzeuger Dejan Terzic in Erscheinung getreten. Das "Fossil, das immer noch singt", wie er sich selbst auf der Bühne bezeichnete, gab auch in Workshops seine Message an Jüngere weiter, die sich vermutlich wie er nach der großen Freiheit der Instrumentalisten sehnen. Er hat sie erreicht. "Ich habe mir dafür meine eigene Sprache zusammengestellt. Es ist wie beim Fliegen: Man hebt ab. Es ist eine große Freiheit, wenn man improvisiert. Das ist mit das Schönste am Scatsingen." Nicht nur die Münchner Jazzszene ist ihm dankbar für große abhebende Momente – die jetzt Geschichte sind. Doch in der Erinnerung vieler Fans und Kolleg:innen wird Willi Johanns‘ Stimme lange nachklingen.
Kommentare (2)
Donnerstag, 29.Februar, 18:11 Uhr
Birgit Chlupacek
Beisetzung Willi Johanns
Die Beisetzung im Kreis der Freunde, Fans und Musiker-Kollegen,
findet am 8. März 2024, 9.00 Uhr im Ostfriedhof, Krematorium (Eingang Sankt-Martin-Straße) statt.
Montag, 26.Februar, 10:35 Uhr
Frank Oliver Weißmann
Willi Johanns
Ich danke Gott, daß ich diesen großen Sänger erleben durfte...ein unersetzbarer Verlust für die Musik...ein unschätzbarer Zugewinn für das Musiker-Jenseits...wir werden ihn und sie alle irgendwann wiedersehen...