Drei Rollen in einem Konzert: Jörg Widmann ist am Donnerstag beim Münchner Kammerorchester als Dirigent, Klarinettist und Komponist zu Gast. Im Interview mit BR-KLASSIK verrät der multibegabte Musiker, wie er diesen Dreiklang meistert.
Bildquelle: Florian Ganslmeier
BR-Klassik: Herr Widmann, gerade bereiten Sie sich auf das Konzert mit dem Münchner Kammerorchester vor. Wie laufen die Proben?
Jörg Widmann: Sehr gut. Mir macht es große Freude, wieder zum Orchester zurückzukommen. Wir arbeiten irre intensiv und ernsthaft, lachen aber viel dabei. Diese Mischung finde ich sehr schön.
BR-KLASSIK sendet am Donnerstag, 2. März ab 20.05 Uhr einen Live-Mitschnitt des Konzerts mit Jörg Widmann und dem Münchener Kammerorchester.
BR-Klassik: Die Arbeit mit dem Orchester ist sozusagen ein Heimspiel für Sie, denn Sie sind den Musikerinnen und Musikern sehr vertraut...
Jörg Widmann: Ich habe schon 1997 meine ersten Stücke für das Orchester geschrieben und dabei einfach unglaublich viel gelernt. Dann haben wir uns allerdings auch viele Jahre aus den Augen verloren. Mit Mendelssohns Reformationssinfonie sind wir uns wieder begegnet. Während der Pandemie haben wir ein Videoprojekt gemacht und dabei Mendelssohns und meine Musik kombiniert. Das wollte ich im regulären Abonnementkonzert aufgreifen. Die Idee, dass sich das eine am anderen entzünden kann. Dass man Mendelssohns Musik noch einmal anders hört, wenn man davor neue Klänge gehört hat. Und wir spielen zwei Stücke, die Mendelssohn im unglaublichen Alter von 15 geschrieben hat: das Andante aus der kleinen Sonate und die erste Symphonie.
BR-Klassik: Das Andante führen Sie ja in Ihrer Bearbeitung auf. Wieso bearbeiten Sie das Stück überhaupt?
Jörg Widmann liebt Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy, weil sie so praxisnah geschrieben ist. | Bildquelle: Marco Borggreve Jörg Widmann: Ich wollte mich auf keinen Fall selbst vor diese Musik schieben, im Gegenteil. Was ich in dieser Musik, in diesem Klaviersatz sehe, wollte ich eben für Streichorchester umsetzen. Um diese etwas psychedelische Kinderzimmer-Klangwelt des Stücks zu verdeutlichen, habe ich eine Harfe und eine Celesta hineingeommen. Die Klarinettenstimme habe ich unangetastet gelassen. Außerdem habe ich mir erlaubt, an der einen oder anderen Stelle klezmerartig kurz eine Geige hineinzunehmen. Mendelssohn war unglaublich diskret mit seinem Jüdischsein, aber es ist da. Ich hoffe wirklich von Herzen, dass es ihm nicht missfallen hätte, sondern dass es ihn gefreut hätte, dass so viele Jahrzehnte später jemand hingeht und sagt: Mensch, das Stück spricht heute noch zu uns, und dass man es wirklich im Heute noch mal ansiedelt.
Mendelssohns Temporausch ist mir sehr nah.
BR-Klassik: Welche Verbindung haben Sie zu Mendelssohn?
Jörg Widmann: Angesichts des Genies von Mendelssohn dürfen wir uns alle nicht damit vergleichen. "Genie" ist ein oft missbrauchtes und zu häufig gebrauchtes Wort. Bei Mendelssohn ist es aber wirklich nicht fehl am Platz. Was mir so gefällt bei ihm, ist die Praxisnähe. Er stand ja ganz früh vor dem Orchester, das merkt man auch an seiner Musik. Dieser Temporausch, den ich auch schon in seinen frühen Stücken höre, ist mir sehr nah. Und die Lust an der Virtuosität! Keine bloß gepanzerte Virtuosität, die dem Publikum präsentiert wird, sondern bei Mendelssohn ist diese immer beseelt.
BR-Klassik: Sie treten im Konzert mit dem Münchner Kammerorchester als Klarinettist, Dirigent und Komponist auf. In welcher Kunstform würden Sie sagen, können Sie sich am besten ausdrücken?
Jörg Widmann: Ich bin sehr froh, dass ich mich in all diesen Sparten ausdrücken darf. Natürlich kommt bei mir alles von der Klarinette. Das heißt, wenn ich dirigiere oder wenn ich komponiere, ist das Atmen etwas ganz Wichtiges. Ich kann gar nicht sagen: "Jetzt bin ich nur das oder nur das." Wie übrigens zu Mendelssohns Zeit auch. Da war das ja selbstverständlich, dass ein Komponist seine Stücke dirigiert und auch ein, zwei Instrumente gespielt hat. Diese Einheit hat für mich persönlich eigentlich nie aufgehört.
BR-Klassik: Ihre drei Musiksparten geben ihnen ja auch drei verschiedene Ausdrucksformen. Ist das für Sie ein Zukunftskonzept für viele junge Musikerinnen und Musikern, nicht nur in einer Sparte zu bleiben?
Jörg Widmann wünscht sich mehr Austausch zwischen junge Komponisten und jungen Interpreten. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann: Zu dieser Grundfrage, wo man in Zukunft hingeht, wurde einer meiner Lehrer, der Komponist Hans Werner Henze, mal befragt. Er hat eine wunderbare Antwort gegeben, nämlich: "Jeder woanders." Und das wäre auch meine Antwort. Ich möchte der jungen Musikergeneration keinen allgemeinen Rat geben: "So sollt ihr es machen!" Natürlich würde ich raten, dass man unbedingt über seinen eigenen Tellerrand hinausschaut und vom Instrument in kompositorische Finessen hineintaucht. Oder sich als Komponist unbedingt mit Musikerinnen und Musikern austauschen soll. Dass es nicht Musik ist, die nur im luftleeren Raum stattfindet, sondern die auch wirklich auf Menschen trifft. Aber das Wichtigste ist tatsächlich, die Eigenheiten von jemandem herauszufinden und jemandem zu helfen, diesen Weg zu gehen. Für den einen ist dieser Weg genau der richtige, für jemanden anders aber nicht.
Mich reizt das Unvorhersehbare der Kunst.
BR-Klassik: Sie haben mal gesagt, das Schwierige sei, sich zu entscheiden...
Jörg Widmann: Dass ich mich schwer entscheiden kann, ist richtig. Es fällt mir vor allem beim Komponieren schwer, bis zum heutigen Tag. Wie geht das Stück weiter? Kommt dieser Formteil nochmal? Oder kommt jetzt ein ganz anderer Teil? Solche Fragen können mich Wochen kosten. Es wäre mir recht, wenn es beim nächsten Stück mal anders wäre. Aber vielleicht wäre ich dann auch nicht mehr ich.
BR-Klassik: Wie entscheiden Sie sich dann in den Kompositionen?
Jörg Widmann: Mir ist es wichtig, dass man nicht nur Stücke am Reißbrett entwirft, wie zum Beispiel: Auf Teil A folgt Teil B. Natürlich gibt es Skizzen, in denen man sich das vornimmt. Aber das Lustige beim Komponieren ist, das oft das Stück mehr weiß als der, der es schreibt. Man denkt: "Jetzt muss hier diese Trompete wiederkommen." Dann kommt man aber just an die Stelle und merkt: Die Trompete stört ja nur an dieser Stelle. Solche Dinge passieren, aber das hält die Kunst spannend. Wenn ich schon wüsste, wie es weitergeht, weil ich immer die gleichen Formen schreibe, würde mich das tödlich langweilen. Da könnte ich gar keine Kunst machen. Mich reizt genau dieses Unvorhersehbare des Kunstprozesses, auch jetzt in unserer Probenarbeit und auch im Konzert. Ich möchte es so gut geprobt und vorbereitet haben, dass alles möglich ist. Dass eine Stelle, die wir Forte geprobt haben, vielleicht die leiseste Stelle im Konzert wird.
München wird für mich immer Heimat sein.
BR-Klassik: Sie sind viel unterwegs. München ist aber ihr Heimatort. Wenn Sie in die Stadt zurückkommen, wohin gehen Sie zuerst?
Jörg Widmann ist viel auf Reisen. Deshalb genießt er die Zeit Zuhause in München umso mehr. | Bildquelle: Marco Borggreve Jörg Widmann: Das Schönste ist für mich, wenn ich nach München nach Hause komme. Tatsächlich nach Hause, nach Haidhausen, wo ich lebe. Wenn ich dort spazieren gehe, bin ich nach einer halben Stunde wieder ganz angekommen, egal mit wie viel Jetlag. Das ist was ganz Seltsames: Umso weiter man weg ist und umso öfter man weg ist, umso wichtiger wird einem der Ort, von dem man kommt. München wird für mich immer Heimat sein. Deshalb ist für mich diese jetzt wieder verstärkte Zusammenarbeit mit dem Münchener Kammerorchester eine weitere, sehr schöne Ausrede und ein schöner Grund, öfter nach München zu kommen. Nach Hause zu kommen.
Sendung: "Leporello" am 25. Januar 2023 ab 16:05 Uhr und Konzertabend am 2. März 2023 ab 20.05 Uhr auf BR-KLASSIK