Raus aus dem Konzertsaal – hin zu den Menschen. Das ist das Ziel dreier verschiedener Berliner Initiativen. Kleinbusse bringen klassische Musik zu einem Publikum, das selten Opern- und Konzerthäuser besucht. Dahinter steckt jeweils mehr als ein kurzfristiges soziales Projekt.
Bildquelle: Bettina Mittelstraß
Alles für die Musik: mit fünf Jahren die erste Geige, eine Jugend für die Musik, ein Studium an einer berühmten Musikhochschule und dann ein erfülltes Leben im Konzertsaal oder Orchestergraben – aber Halt! Vorher geht es noch in die Berliner Charité oder ins Frauengefängnis in Berlin-Neukölln. Das Internationale Ausbildungsprogramm "Musethica" meint das ernst. Seit 2012 können sich in über 10 europäischen Ländern Musikstudierende auf dem Sprung in eine herausragende Karriere für eine außergewöhnlich intensive Konzertwoche bewerben.
Das Musikfeature "Nur die Besten dürfen ins Gefängnis – Klassik für nicht-klassisches Publikum" läuft am 26.5. ab 19:05 Uhr sowie am 27.5. ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
Musethica-Deutschland organisierte im Februar 2023 eine solche Konzertwoche: Ein Kleinbus fuhr fünf Studierende aus vier Ländern mit ihren Streichinstrumenten quer durch Berlin. Mit ihrer Tutorin, der Cellistin Konstanze von Gutzeit, spielte das Streichsextett elf Konzerte in nur sechs Tagen – und zwar in Psychiatrien, mehreren soziale Zentren und im Gefängnis. Die Idee dazu stammt vom Bratschisten Avri Levitan, Mitbegründer und künstlerischer Leiter von Musethica International. Für den letzten Schliff der persönlichen Spielkunst brauche es ein Auditorium jenseits der eigenen Community und Konzertsäle, sagt der Musiker. Denn wer zu den Besten gehören wolle, müsse immer und überall musikalisch überzeugen. Aber das ist noch nicht alles, was Musethica will.
Musik ist grundlegend sozial.
"Musik ist grundlegend sozial", sagt Avri Levitan. "Wir werden zu Profis ausgebildet, um Musik zu kommunizieren – für die ganze Gesellschaft, das ist unser Job." Professionelle Konzerte im Gefängnis seien also kein "Extra" an sozialem Engagement. "Vielmehr möchten wir das Ausbildungssystem dahingehend ändern, dass auch diese freien Konzerte zum normalen Alltag von Musikerinnen und Musikern werden."
Der Operndolmuş der Komischen Oper Berlin zu Besuch in Spandau Wilhelmstadt | Bildquelle: Bettina Mittelstraß
Noch ein anderer Kleinbus fährt regelmäßig durch die Hauptstadt: Der Operndolmuş der Komischen Oper Berlin. Dolmuş ist der türkische Name für ein Sammeltaxi, das an der Straße auf Zuruf anhält, um Menschen unkompliziert zusammenzubringen. Und so bringt der Operndolmuş unter dem Motto "Selam Opera!" – Hallo hier kommt Oper! – fünf Mitglieder aus Ensemble und Orchester der Komischen Oper Berlin in die Kieze. Dort präsentieren sie in den Quartierszentren ein kurzes Musiktheaterstück aus Duetten und Arien aus dem Repertoire der Komischen Oper Berlin – neu arrangiert und zugeschnitten auf die Lebenswirklichkeit einer aus vielen Ländern migrierten Gesellschaft. Oper für alle.
Für alle, die in kleinen Gemeinden und abgelegenen Dörfern leben, hat der Pianist Jens Schlichting 2021 eine lang gehegte Idee umgesetzt: In einem Transporter fährt er seinen Konzertflügel dorthin. Sein "Pianomobil" ist auch eine aufklappbare Bühne mit Dach. "Klassische Konzertveranstaltungen mit Konzertflügel sind in vielen Gegenden sonst unmöglich", sagt der Pianist. Zu teuer sind Transport und Versicherung eines so wertvollen Instruments. Zugleich ist es für Jens Schlichting eine Lebensform, seine Kunst zu den Menschen zu bringen statt auf sein Publikum zu warten.
Keine Beleuchtung, keine Akustik, und trotzdem: Es hat alles perfekt gestimmt.
Die Wirkung von Klassikkonzerten und Opernaufführungen in Turnhallen, Foyers, auf Campingplätzen oder in ehemaligen Waschküchen ist für beide Seiten oft überwältigend. Die Mezzosopranistin Elisabeth Wrede hört das Publikum bei ihrem Gesang weinen und mitsingen. Der Kontrabassist Arnulf Ballhorn sieht nicht nur den Orchestergraben, sondern die Emotionen, die sein Spiel auslöst. Die Geigerin Maïlis Bonnefous erlebt Schulkinder oder an Demenz erkrankte Menschen, die sich berührt bei ihr bedanken. Sie alle sagen: "Jetzt weiß ich, warum ich Musik mache." Auch das Publikum reagiert mit Sprachlosigkeit, Berührung, Überraschung und Gänsehaut auf die professionellen Darbietungen in ihrem Alltag und Umfeld – so wie Brigitte F. aus Spandau Wilhelmstadt: "Keine Beleuchtung, keine Akustik, und trotzdem: Es hat alles perfekt gestimmt."
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