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Zwei Jahre Krieg in der Ukraine Wie ein Ballettpaar trotzdem tanzt

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren begann der russische Überfall auf die Ukraine. Zigtausende Menschen haben das Land seitdem verlassen, auch Iryna Khandazhevskaya und ihr Mann Anatolii. Das Ballettpaar floh aus Charkiw über Polen nach Puchheim bei München. Hier versuchen sie, sich ein neues Leben aufzubauen.

Das Ballettpaar Iryna und Anatolii Khandazhevskaya | Bildquelle: Ksenia Orlova / Instagram irinakhandazhevskaya

Bildquelle: Ksenia Orlova / Instagram irinakhandazhevskaya

Als der Krieg ausbricht, arbeitet Iryna Khandazhevskaya an der Rolle der Julia aus dem Ballett "Romeo und Julia", eine ihrer liebsten Figuren. Ende Februar 2022 soll Spielzeitpremiere sein. Aber statt zu tanzen, kauert sie am Premierenabend mit ihrer Familie in einem Gewölbekeller bei Charkiw. Statt Prokofjews Musik hört sie das Einschlagen von Geschossen und Sirenengeheul. Nach vier Nächten im Keller plant Iryna die Ausreise nach Polen. Die ukrainische Regierung hat Sonderzüge bereitgestellt. "Der Bahnhof in Charkiw war komplett überfüllt, und ich hatte meine Mama, meine zwei Kinder und den Hund dabei. Sie wollten uns nicht in den Zug lassen, wegen dem Hund", erinnert sich die Tänzerin an den Tag ihrer Flucht. "Ich habe gesagt, ich lasse niemanden aus meiner Familie da und nehme ihn die ganze Zeit auf den Arm. Dann sind wir eingestiegen". Ihr sei egal gewesen, wohin die Fahrt ging, Hauptsache über die Grenze.

Kontakt zu Bekannten in Bayern

Iryna Khandazhevskaya erlebt in den Tagen der Flucht ein merkwürdiges Debüt. Als Ballerina ist sie von Kind an daran gewöhnt, täglich zu trainieren. Es kam noch nie vor, dass sie über so einen langen Zeitraum keine Pirouetten gedreht, keine Dehnübungen gemacht hat. Hinter der polnischen Grenze sitzt sie nun in einer Turnhalle auf dem Boden und funkt alle Bekannten aus Frankreich, Italien und Deutschland über ihr Smartphone an. Eine Freundin lädt sie zu sich in die Nähe von München, wo mittlerweile auch Irynas Mann Anatolii eingetroffen ist. Auch er ist Tänzer und war bei Kriegsbeginn auf Tournee in Frankreich. "Wir sind extrem gut vernetzt durch unsere Tourneen durch Europa", sagt Iryna. Ganz besonders geholfen hat ihnen Ivan Liška, der Künstlerische Leiter des Junior Ballett in München. Er hat das ukrainische Paar von Anfang dabei unterstützt, im Training zu bleiben. Bei ihm können sie immer noch als Gäste an Ballettklassen teilnehmen. "Ich schätze das sehr, weil es für Balletttänzer das Wichtigste ist. Sobald wir aufhören zu tanzen, also nicht im Training bleiben, verlieren wir unsere Professionalität."

Keine russischen Ballette tanzen

Krieg in der Ukraine. Truemmer,zerstoerte Wohnhaeuser,Verwuestung nach Raketenangriff. Praesident Volodymyr SELENSKYJ (ZELENSKYY) besucht die Region um Charkiw (Kharkiv) am 29.05.2022.  | Bildquelle: picture alliance / SVEN SIMON/The Presidential Offi | The Presidential Office of Ukraine Bildquelle: picture alliance / SVEN SIMON/The Presidential Offi | The Presidential Office of Ukraine Iryna und Anatolii sind nicht die einzigen Tänzer auf der Flucht. Doch die freien Stellen bei deutschen Ballettensembles sind rar. Kreativ und innovativ formieren sich verschiedene kleinere ukrainische Compagnien. Iryna und Anatolii werden immer wieder als Solistenpaar für Auftritte gebucht. Dank ihres berühmten Namens sind sie die perfekte Werbung für die Compagnien. Der erste Schritt in der neuen Heimat Deutschland scheint geschafft. Da meldet sich plötzlich das Theater aus Charkiw. Das preisgekrönte Tänzerpaar, diese "Volkskünstler der Ukraine" sollen keine russischen Ballette aufführen. Ihrer Meinung nach sei diese Haltung lächerlich und macht dies am Beispiel von Tschaikowskys "Nussknacker" deutlich: "Die Geschichte kommt aus Deutschland, die Choreographie stammt von einem Franzosen. Für mich ist das ein fantastisches Kunstwerk. Es war nicht Tschaikowsky, der den Krieg angefangen hat." Und dennoch: "Ich hatte wirklich Angst, dass sie mich rausschmeißen, wenn ich in Deutschland russische Ballette von Tschaikowsky tanze".

Vorgaben aus der Ukraine, Angebote aus Deutschland

Während Iryna über Tschaikowsky spricht, blickt sie in die Ferne, als ob sie dort irgendwo ihr geliebtes Theater sehen könnte. Sie bekräftigt ihre Aussage, dass es eine ukrainische Anweisung gebe, die der Primaballerina sämtliche Tschaikowsky-Rollen untersagen soll. "Und das schlimme ist, wenn wir hier angefragt werden, irgendwo mitzutanzen, dann sind es genau diese drei Ballette von Tschaikowsky: Nussknacker, Schwanensee und Dornröschen. Wir haben die klassische Choreografie gut drauf und hier will man genau das von uns sehen." Sie stehe im Grunde vor der Wahl: Entweder das Tanzen wegen des Drucks aus der Ukraine komplett beenden, oder hier tanzen, was ihr angeboten werde und die Heimat dafür aufgeben. "Das tut mir sehr weh."

Kreative Lösung gesucht und gefunden

Offiziell gehören Iryna und Anatolii ja immer noch zum Theater in Charkiw, unbezahlt, versteht sich. Ihre Lösung ist: Ein eigenes, ein neues Märchenballett erfinden, verortet in den Wäldern der Ukraine. Irynas Arbeit an dieser "Eisprinzessin" beginnt am Schreibtisch. "Ich bin da nicht nur eine Tänzerin, ich habe auch die Geschichte geschrieben. Eigentlich ist mein Traum, dass ich mit dem neuen Ballett irgendwann zurück gehe ans Theater in Charkiw."

Unterstützung durch eine Stiftung

Die Musik kommt von Halvorsen, von Vivaldi, von Mozart. Politisch absolut korrekt. Für die Choreografie gewinnt sie Andreas Heise, er ist ein gefeierter Newcomer, dessen Terminkalender eigentlich rappelvoll ist. Was fehlt: Geld, ein Theater und ein gutes Netzwerk zu Veranstaltern. Viele Mails formuliert Iryna mühsam auf Deutsch und Englisch, die meisten davon bleiben unbeantwortet. "Es brannte so in mir, ich wollte das unbedingt machen. Und tatsächlich lösten sich einige Probleme, auch wenn es unfassbar schwierig ist. Allein einen Saal zu bekommen, der groß genug ist, um darin zu tanzen. Aber wir haben eine Stiftung gewinnen können." Dank der Unterstützung durch die Stiftung konnten sie bereits vier Vorstellungen in Deutschland geben.

Weitere Pläne wecken Hoffnungen

Iryna und Anatoli tanzen das Prinzenpaar im schwäbischen Tuttlingen und in Puchheim. Das sind keine typischen Ballettbühnen. Aber die beiden können dort tun, was sie wirklich können. Und das hauptsächlich ukrainische Publikum bedankt sich mit Tränen in den Augen für dieses Stückchen Heimatgefühl. Leben kann die einstige Primaballerina Iryna Khandazhevskaya davon zwar nicht, aber Hoffnung schöpfen. "Wir haben über Empfehlungen Produzenten aus Norwegen eingeladen. Und wir hoffen sehr, dass wir im nächsten Jahr nach Skandinavien gehen können, um dort unser Ballett zu zeigen."

Sendung: "Allegro" am 22. Februar 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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