Was für ein Stoff: Auf einem Passagierdampfer begegnet eine ehemalige KZ-Aufseherin einem ihrer Opfer. Daraus entspinnt sich die Handlung einer absolut ungewöhnlichen Oper. Am Sonntag hatte Mieczysław Weinbergs "Passagierin" in München an der Bayerischen Staatsoper Premiere – in der Regie von Tobias Kratzer, dirigiert von Vladimir Jurowski.
Bildquelle: Wilfried Hösl
Kritik
Weinbergs "Passagierin" in München
Eine Oper über Auschwitz – wie soll das gehen? Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, meinte der Philosoph Theodor W. Adorno 1949. Später hat er den provokativen Satz widerrufen. Doch der Spruch bleibt im Gedächtnis: Kann man Grauen in Kunstgenuss verwandeln?
Als polnischer Jude konnte der Komponist Mieczysław Weinberg dem Holocaust nur durch Flucht in die Sowjetunion entkommen. Seine gesamte Familie wurde ermordet. Auch in der Sowjetunion war Weinberg antisemitischer Verfolgung ausgesetzt. Wenn sich sein Freund Schostakowitsch nicht für ihn eingesetzt hätte, hätte Stalin ihn wohl ermorden lassen. Weinbergs Oper "Die Passagierin" ist ein Werk, das gegen ungeheure Widerstände anrennt. Zum Beispiel die sowjetische Zensur. Vergeblich: Die 1968 vollendete Oper durfte nicht gespielt werden. Erst 2010, 14 Jahre nach Weinbergs Tod, wurde die "Passagierin" in Bregenz uraufgeführt.
Gemeinsam mit Dirigent Vladimir Jurowski hat Regisseur Tobias Kratzer alles gestrichen, was im Textbuch nach sowjetischer Propaganda riecht. Weinberg und sein Librettist hatten, um die Zensur gnädig zu stimmen, extra eine russische Kommunistin in die Handlung eingebaut, die immer ganz besonders schlaue Sachen sagt. Diese Figur wird in der Münchner Fassung getilgt. Ein legitimer und kluger Schachzug, der das Stück gegenwärtiger macht.
Der größte Widerstand, gegen den Weinberg anrennt, ist das Vergessen. Ganz dringend vergessen will die Vergangenheit Lisa, eine ehemalige KZ-Aufseherin. Vergeblich: 15 Jahre nach dem Krieg begegnet sie auf einem Passagierdampfer einem ihrer Opfer. Schlagartig holt sie die Vergangenheit ein. An Bord wird gefeiert und getanzt. Doch Lisa wird von der Erinnerung an ihre Schuld heimgesucht. In Rückblenden werden die Schrecken des Lagerlebens wachgerufen. Regisseur Tobias Kratzer trifft eine klare Entscheidung: Dies ist eine Oper über die Erinnerung, keine Oper über Auschwitz. Weil die Bühne das äußerste Grauen nicht direkt darstellen kann. Oder soll. Schon aus Respekt vor den Opfern. Deshalb gibt es keine Häftlingsuniformen, keine SS-Stiefel, keine Lagerbaracken und keinen Stacheldraht. Alles spielt an Bord des Ozeandampfers, auch die Rückblenden ins Lager.
BR-KLASSIK hat Mieczysław Weinbergs "Passagierin" am 10. März live im Radio übertragen. Hören Sie hier die komplette Oper.
Bildquelle: © Wilfried Hösl
Vorne am Bühnenrand türmen sich die Balkons eines Luxusliners. Die Kostüme deuten die 50er Jahre an. Doch auch die Gegenwart spukt durchs Bild: Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa steht zweimal auf der Bühne, als Frau des Jahres 1959 und zugleich als verstörte uralte Greisin, die an ihrer Schuld zerbricht und sich umbringt.
Die erinnerten Lagerszenen durchkreuzen einen Tanzabend. Die Nachkriegsgesellschaft tut alles, um die jüngste Vergangenheit gründlich zu verdrängen: Wir sind wieder wer. Doch die schmucken Stewards und Kellner haben eben noch die Knüppel geschwungen, die KZ-Häftlinge, in völlig neutrale schwarze Kostüme gekleidet, liegen tot auf dem Banketttisch. Diese indirekte Darstellung ist ebenso skrupulös wie klug. Andeutungen sind eindringlicher als jeder Schock – die realen Bilder kriegt man ja sowieso nicht aus dem Kopf, wenn man sie einmal gesehen hat.
Exzellent auch die musikalische Umsetzung. Aus dem durchweg starken Ensemble ragen Sophie Koch als Lisa und die fantastische Elena Tsallagova als Marta heraus. Dirigent Vladimir Jurowski betont am Pult des Staatsorchesters die expressive Seite von Weinbergs Musik. Geschickt und bühnenwirksam verwebt die Partitur Anklänge an Schostakowitsch und Britten mit zahlreichen Zitaten – von Bach bis Jazz. Eine Oper, die das Unmögliche versucht: Bilder für das zu finden, was man kaum aussprechen kann. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Dieser Abend trifft ins Schwarze der Gegenwart.
Sendung: "Allegro" am 11. März 2024 ab 6:05 Uhr auf BR:KLASSIK
Kommentare (7)
Montag, 18.März, 16:38 Uhr
trappe
Schwachsinn
Was soll denn das, dass heute die Leute mit einem bekannten Operntitel angelockt werden sollen, der Inhalt völlig entstellt wird? Bis wann hat Weinberg gelebt, Ihr Leute, die man früher als Kritiker und Regisseure bezeichnete? Bis 1996. Also hat dies nichts, aber auch gar nichts mit der aktuellen Zeit zu tun, wenn russische "Propaganda" vorhanden war.
Was ist denn dies nun umgekehrt für eine mediale und sinnentstellte Propaganda? Ich kann das alles nur noch belächeln und bald verachten. Eindimensionales Denken schadet. Und Jurowskis Ende wäre unter solchen Umständen der Entstellung von Opern wohl kein Verlust für München.
Montag, 18.März, 09:24 Uhr
Maria Maras
Eingriffe in das Original
Ich bin sehr erstaunt, daß alle Kritiker diese Änderungen gut heißen und keiner sich empört. Darf man eine Oper mittlerweile nach Gutdünken verändern? Mir schwankt der Boden.....
Sonntag, 17.März, 11:23 Uhr
Dr. Michael Arndt
Ihre Theaterkritik zu Die Passagierin
Wir haben gestern Abend die Vorstellung zur Pause verlassen. Die Musik war.wenig melodiös. Der Gesang war mehr Sprechgesang. Das Sujet ist für uns nicht von Interesse. Das Ganze erinnerte mehr an ein Experimentalstück.
Eine unmögliche Inszenierung.
Alles in allem ein verlorener Abend.
Einziger Vorwurf an uns selber: Beim.nächsten Mal besser aufpassen bei der Auswahl.des Stücks.
Mittwoch, 13.März, 08:28 Uhr
Marianne Waldenmaier
Zensur
Wenn es sich um eine russische Kommunistin, die schlaue Sachen sagt, handelt, dann darf getilgt(!) werden. Gemeinhin, d.h. in anderen Fällen, würde man das Zensur nennen, oder?
Dienstag, 12.März, 12:12 Uhr
martha mogl
die passagierin
Ein kluger Kommentar zu einer außergewöhnlichen, faszinierenden Oper! Danke!
Montag, 11.März, 16:24 Uhr
Diethart Lehrmann
Feuiletton zur Passagierin
Endlich einmal ein Feuiletton, das dem in Gedanke, in Szene und in Musik mit all ihrem Personal ganz großen, wahrlich überwältigenden Abend der Staatsoper vollauf gerecht wird. In ihm klingt all das nach, was Kratzer und Jurowski mit i h r e n Mitteln vermittelt haben. Ein Feuiletton, das man immer wieder lesen und...auch aufheben kann und muss. Danke!
Montag, 11.März, 13:48 Uhr
Weingart Franz
Feuiletton zur Passagierin
Interessant war es miteinander in der Aufführung! lg Franz