Der polnisch-jüdische Komponist Mieczyslaw Weinberg floh zweimal vor Hitlers Truppen: 1939 von Warschau nach Minsk, 1941 von dort weiter nach Taschkent. Dorthin war die kulturelle Elite der Sowjetunion evakuiert worden. Später zog Weinberg mit der Familie nach Moskau, wo er ein enger Freund Dmitri Schostakowitschs wurde. Dennoch war er immer wieder antisemitischen Anfeindungen und politischer Verfolgung ausgesetzt. Der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper Vladimir Jurowski über Antisemitismus in der Sowjetunion, über den Komponisten Weinberg und dessen Oper "Die Passagierin".
Bildquelle: Bayerische Staatsoper/Simon Pauly
BR-KLASSIK: Herr Jurowski, Ihr Großvater, der Komponist Vladimir Jurowski, gehörte zur selben Generation wie Mieczysław Weinberg und verkehrte im selben Moskauer Künstlerzirkel. War Ihre Familie auch mit dem Komponisten persönlich bekannt?
Vladimir Jurowski: Meine Familie stand Solomon Michoels, dem ermordeten Schwiegervater von Weinberg, sehr nahe. Mein Urgroßvater David Block, der Gründer und erste Dirigent des sowjetischen Filmorchesters, war auch Mitglied des Antifaschistischen Komitees, dessen Vorsitzender Solomon Michoels war. David Block war der Schwiegervater meines Großvaters, so wie Solomon Michoels der Schwiegervater Weinbergs war. Block starb im Dezember 1948 während einer Orchesterprobe an Herzversagen. Er sollte verhaftet werden, so wie Weinberg und alle anderen, die Michoels irgendwie nahestanden. Die NKWD [Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der Sowjetunion] Agenten kamen ins Haus, als er bereits tot war und "verhafteten" sozusagen seine gesamten Papiere: Daher haben wir von meinem Urgroßvater und von Michoels kaum mehr Bilder oder Briefe. Weinberg war zwei Monate im Gefängnis, wurde aber zum Glück nicht weiterverlegt in die Lager. Das hat vermutlich ein Brief von Schostakowitsch verhindert. Denn obwohl Schostakowitsch ja auch ein Geächteter war, so blieb er doch Staatskomponist Nr. 1 und hatte schon eine gewisse Autorität, um seinen jüngeren Kollegen zu beschützen.
BR-KLASSIK: Das kulturpolitische Klima in der Sowjetunion muss bedrückend gewesen sein. Komponisten wie Schostakowitsch und Prokofjew wurden mit dem Vorwurf des Formalismus konfrontiert, Weinberg wurde zusätzlich des "Kosmopolitismus" bezichtigt…
Vladimir Jurowski: Kosmopolitismus war eine verkappte Bezeichnung für jüdische Herkunft. Antisemitismus war ja im Sowjetstaat nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell nicht möglich, also hat man es anders genannt. Die Kosmopoliten waren vor allem die Musik-, Literatur- und Theaterschöpfer jüdischen Ursprungs. Man kann nicht sagen "jüdischen Glaubens", denn in der Sowjetunion gab es offiziell keine Gläubigen. Das heißt, die Menschen wurden nach ihrer nationalen Zugehörigkeit – ich würde sogar weitergehen und sagen – nach einer rassischen Zugehörigkeit eingeteilt. Auch zu meiner Zeit gab es im Personalausweis den sogenannten 5. Paragraphen und das war die Nationalität: Russe, Ukrainer, Belarusse, Georgier, Armenier, Usbeke und Jude, das galt als Nationalität.
BR-KLASSIK: Und das war im Sowjetstaat ganz offenbar keine Empfehlung. Selbst wenn sie nicht verfolgt wurden, so wurden jüdische Künstler wie Weinberg nicht gefördert?
Vladimir Jurowski: Ab einer bestimmten Zeit nicht mehr. Während unter Lenin jüdische Künstler ihre Heydays erlebten und ja auch die wichtigsten kommunistischen Führer wie Karl Marx und Leon Trotzki selbst jüdischen Ursprungs waren, förderte Stalin den Antisemitismus. Er duldete zwar ein paar Juden, wie seinen Vertrauten Lasar Kaganowitsch und den Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der sogar das Recht hatte, ihm auch mal zu widersprechen. Aber wir wissen nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn Stalin länger gelebt hätte. Es gab nach den Ärzteprozessen Pläne zur Deportierung aller Juden nach Sibirien. Man stand also an der Schwelle eines Nazi-ähnlichen Terrors, der nur durch Stalins Tod verhindert wurde.
BR-KLASSIK: Die anschließende Tauwetter-Periode unter Chruschtschow dauerte dann auch nicht lange genug für Weinbergs Oper "Die Passagierin". In offiziellem Auftrag geschrieben, gelangte sie dennoch nicht zur Aufführung…
Vladimir Jurowski: Ich bin mir sicher, wäre die Oper zwei Jahre früher rausgekommen, dann hätte es auch eine Inszenierung am Bolschoi-Theater gegeben – mit Hilfe Schostakowitschs natürlich, aber nach 1968 konnte auch Schostakowitsch nicht mehr viel tun. Mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei war der Eiserne Vorhang wieder runtergeknallt.
BR-KLASSIK: Die szenische Uraufführung von "Die Passagierin" in Bregenz 2010 war ein grandioser Booster für die Wiederentdeckung Weinbergs. Haben Sie das damals verfolgt?
Der Komponist Mieczysław Weinberg. Seine Oper "Die Passagierin" hat am 10. März in München Premiere. | Bildquelle: © Tommy Persson Vladimir Jurowski: Ich habe das am Rande mitbekommen, das passierte ja während meiner Wirkungszeit in Russland. Ich habe ein paar Mal Weinbergs Werke aufs Programm gesetzt, so zum Beispiel das Violinkonzert mit Gidon Kremer, aber ich bin – das muss ich gleich vorwegschicken – kein eingefleischter Weinberg-Fan. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die ihn für ein absolut verkanntes Genie des 20. Jahrhunderts halten. Ich finde, er ist ein sehr wichtiger Komponist, aber nicht jedes Stück seines riesigen Oeuvres ist ein Meisterwerk. Ich habe sogar mit "Die Passagierin" gehadert, obwohl sie ja inzwischen eine unangefochtene Autorität unter den Opern des 20. Jahrhunderts ist. Mein Problem damit ist das fast peinlich melodramatische sowjetische Libretto. Erst durch eine gründliche Umarbeitung des Stücks durch Tobias Kratzer und durch mich wurde es für uns beide möglich, die Inszenierung hier an der Bayerischen Staatsoper zu machen.
Am 10. März feiert Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" Premiere an der Bayerischen Staatsoper – in einer Inszenierung von Tobias Kratzer. Mehr zur bevorstehenden Premiere finden Sie hier.
BR-KLASSIK: "Die Passagierin" wird oft als Ausschwitz-Oper bezeichnet und daher automatisch mit dem Holocaust verbunden, dabei war in der Vorlage der polnischen Autorin und Ausschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz von jüdischen Häftlingen gar nicht die Rede.
Vladimir Jurowski: Die hat sie auch nicht gesehen, denn die waren in anderen Baracken untergebracht. Sie schildert die polnische und ausschließlich nichtjüdische Perspektive. Weinbergs Librettist Alexander Medwedew hat nachträglich eine erfundene Frauen-Internationale in den Baracken versammelt: eine Polin, eine Jüdin, eine Tschechin, eine Französin, eine Russin. Und dazu noch eine russische Partisanin, die sofort eine geistige Führung im Lager übernimmt. Das klingt doch alles sehr nach einer Anbiederung an die sowjetische Ideologie von damals. Deshalb haben wir die Figur der russischen Partisanin Katja komplett gestrichen.
BR-KLASSIK: Die unterschiedliche Herkunft der Frauen führt dann auch zur verwirrenden Vielsprachigkeit des Librettos…
Vladimir Jurowski: Es gibt einen Satz von Katja, den inzwischen Yvette singt, die angeblich eine Französin ist. Bei uns spricht sie polnisch, denn sonst wäre ihre Kommunikation mit Bronka, einer alten polnischen Bauernfrau, unrealistisch gewesen. Yvette ist bei uns eine Polin, die Französisch kann oder vielleicht hat sie französische Vorfahren. Es gibt eine Szene, wo sie versucht, Bronka Französisch beizubringen, das ist geblieben. Kurz darauf werden fast alle Frauen ermordet. Den letzten Satz von Katja: "Vergesst uns nicht! Keine Vergebung – niemals!" haben wir ins Polnische übersetzt und Yvette überlassen. Übrigens hat es mit Hannah, der einzigen Repräsentantin jüdischer Häftlinge, eine besondere Bewandtnis: Laut Medwedews Libretto stammt sie aus Thessaloniki. Meiner Recherche zufolge gab es tatsächlich sehr viele Judentransporte aus Griechenland nach Ausschwitz, aber die jüdischen Griechen sprachen nicht Jiddisch, sondern Ladino, das Judäo-Spanisch – das ist eine völlig andere Sprache! Deswegen haben wir Hannahs Heimatstadt von Thessaloniki nach Trieste verlegt, auch eine Stadt am Meer und eine Art "melting pot" der Kulturen, wo Jiddisch wahrscheinlicher anzutreffen wäre. Insgesamt haben wir sehr stark eingegriffen in das Stück, um es möglichst nah an der Vorlage von Zofia Posmysz zu halten und vor allem, um die Glaubhaftigkeit der Figuren nicht in Gefahr zu bringen. Es wäre fatal, wenn man sich bei so einem wichtigen und gerade heute wieder hochaktuellen Stück fremdschämen müsste für das holzschnittartige Libretto eines lang verstorbenen sowjetischen Schriftstellers.
BR-KLASSIK: Diese Eingriffe und Striche betreffen auch die Musik?
Vladimir Jurowski: Richtig, das Stück dauert bei uns knappe zwei Stunden, da sind 20 bis 30 Minuten Musik weggefallen: Beispielsweise haben wir die Szenen im Frauenlager auf ein Minimum reduziert, genauso wie die realistischen Chöre, die auf der Bühne gesungen wurden. Bei uns agiert der Chor nur hinter der Bühne, wie ursprünglich von Weinberg gedacht. Aber ich finde, das sind absolut legitime Striche, die das Stück nicht entstellen, sondern das Beste der Oper hervorheben. Man muss ja auch sagen, es war Weinbergs Opernerstling. Er hat später noch mehrere Opern geschrieben, die schon viel geschickter gestrickt sind – sei es "Lady Magnesia" oder "Der Idiot" nach Dostojewski. "Die Passagierin" war seine allererste Arbeit in der Welt der Oper und ich finde, das merkt man. Besonders im Vergleich zu Weinbergs Instrumentalmusik der 60er Jahre. Die 10. Sinfonie oder das 11. Streichquartett gehen schon in Richtung Zwölftonmusik; dazu gibt es diese neobarocken, polystilistischen Welten, die dann Alfred Schnittke weiterführen wird. Interessanterweise entstand das wahrscheinlich populärste Musikstück von Weinberg, nämlich die Musik zum Kinderanimationsfilm nach Alexander Milnes "Winnie-the-Pooh", im selben Jahr 1968; genauso die zu "Die Ferien des Bonifazius", ein Trickfilm über einen Zirkuslöwen, der Urlaub von seinem Zirkus nimmt, um seine Großmutter in Afrika zu besuchen. Das sind wirklich absolute Meilensteine der russischen Filmmusikgeschichte, da reicht dem Weinberg meiner Ansicht nach keiner das Wasser.
Mieczysław Weinberg: "Die Passagierin"
Oper in zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog
Libretto von Alexander W. Medwedew
nach der gleichnamigen autobiografischen Erzählung Pasażerka (1962) von Zofia Posmysz (1923–2022)
Premiere am 10. März 2024, 18:00 Uhr, Nationaltheater München
BR-KLASSIK überträgt die Premiere live im Radio.
BR-KLASSIK: Die Passagierin dürfte allerdings wie kaum ein anderes Werk mit Weinbergs persönlichem Schicksal verknüpft sein.
Vladimir Jurowski: Es war ihm ganz offensichtlich ein persönliches Anliegen, diese Geschichte aus seiner Heimat zu erzählen und seiner zurückgelassenen und ermordeten Familie symbolisch zu gedenken mit diesem Werk. Er sprach nie darüber, sogar als er Zofia Posmysz traf und sie lange polnisch miteinander sprachen, hat er ihr nicht erzählt, dass seine ganze Familie in einem Konzentrationslager umgekommen ist. Sie war schockiert, als sie davon später durch andere erfuhr. Das zeigt aber, wie mehrfach traumatisiert Weinberg als Mensch war. Ich habe den Verdacht, dass er vom Syndrom der Überlebensschuld geplagt wurde. Weil er der einzige Überlebende der Familie war; Schwester, Vater und Mutter, Onkel und Tante blieben in Warschau zurück und kamen alle um. Und er erfuhr davon erst 25 Jahre später, eine schreckliche Geschichte.
BR-KLASSIK: Zofia Posmysz wurde bisweilen vorgeworfen, dass Sie in Lisa eine KZ Aufseherin mit Gewissen dargestellt habe. Ihre Perspektive sucht einen Funken Menschlichkeit auch auf der Seite des Bösen, statt Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben.
Vladimir Jurowski: Das ist ja eben das Tolle an ihrem Werk. Ich will das jetzt literarisch keineswegs vergleichen, aber dass sie die menschliche Problematik der Täterin aus der Täterinnenperspektive beschreibt, lässt durchaus an Shakespeare denken. Denn das Problem der Lisa ist das Problem vom Ehepaar Macbeth und das wird in unserer Inszenierung besonders deutlich. In Lisa vereinigen sich Lady Macbeth und Macbeth selbst. Sie hat schon Blut auf ihren Händen, aber sie tötet "mit den Händen der anderen". Zum Schluss fällt das Verdikt "schuldig" und dieses Verdikt spricht Lisa eigentlich selbst aus, obwohl sie bis zum Schluss beteuert, dass sie nicht für alles eine Verantwortung tragen muss. "Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen", sagt ihr Mann Walter in einem Toast-artigen Spruch und das ist leider auch ein schreckliches Alarmzeichen unserer Zeit. Wieder gibt es Stimmen, die sagen: Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen, den Holocaust zu vergessen.
BR-KLASSIK: Welche Stellen in der Oper mögen Sie musikalisch besonders?
Vladimir Jurowski: Die zentrale "Konzertszene" mit Bachs Chaconne ist natürlich von überwältigender Wirkung auf das Publikum. Aber musikalisch ist das nicht meine Lieblingsstelle. Ich mag sehr die lyrischen Szenen in der Frauenbaracke, die einzelnen Monologe der Protagonistinnen. Ich liebe die sogenannte Arie von Martha im sechsten Bild nach dem Text des ungarischen Dichters Sandor Petöfi: ein lyrischer und trotzdem heroischer Appell an Liebe und Freiheit. Da hört man auch Weinbergs musikalische Ursprünge in der polnischen Musik, ähnlich wie in den Klavierliedern, die er wirklich wie kein anderer schrieb. Großartig finde ich auch die parodistische Darstellung der Nachkriegskleinbürger auf dem Schiff, wo auch viel Jazzmusik dazukommt und man auch so einen Vorläufer des Bebops nach Art von Thelonius Monk hört. Diese Stellen verraten, dass Weinberg in seiner Jugend viel leichte Musik betrieben hat, wie übrigens sein Vater auch. Und das liebe ich besonders. Die großen pathetischen Szenen erinnern mich eher an die Handschrift von Dmitri Schostakowitsch, sie sind weniger selbständig, aber passen hervorragend in dieses Stück hinein. Ich finde auch interessant, wie Weinberg auf der kompositorischen Ebene mit einer Zwölftontechnik mit tonalen Bezügen arbeitet, so ähnlich wie Schostakowitsch und Strawinsky. Man hört auch ziemlich starke Einflüsse von Benjamin Britten, von "Billy Budd" und teilweise auch von "Peter Grimes". Das tröstet mich auch ein wenig, denn auch diese beiden Meisterwerke leiden unter ihren prüden, sehr vom Geist der damaligen Zeit gezeichneten Libretti. Da Homosexualität nicht beim Namen genannt werden durfte, musste Britten vieles mit Äsops Sprache umschreiben. Und das erinnert mich sehr an die sowjetischen Komponisten der Zeit, die auch vieles nicht beim Namen nennen durften.
Sendung: "KlassikPlus: Der Komponist Mieczysław Weinberg" am 8. März 2024 ab 19:05 Uhr und am 9. März um 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
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