Dass eine Oper vor dem historischen Hintergrund des brutalsten Massenmordes der Menschheitsgeschichte stattfindet, ist mehr als irritierend. In "Die Passagierin" von Mieczysław Weinberg trifft eine ehemalige SS-Aufseherin, die gerade auf einem Passagierschiff in Richtung Brasilien unterwegs ist, auf eine KZ-Überlebende. Ob das Ganze Realität oder eine Vision ist, die sich im Kopf der ehemaligen SS-Frau abspielt, bleibt absichtlich unklar. Am 10. März hat "Die Passagierin" an der Bayerischen Staatsoper Premiere, inzeniert von Tobias Kratzer und dirigiert von Vladimir Jurowski. Ein Probenbesuch.
Bildquelle: Wilfried Hösl
"Es ist die erste Oper in der Geschichte, die sich mit dem Thema Konzentrationslager und Krieg beschäftigte", sagt Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski über "Die Passagierin" von Mieczysław Weinberg. Die Heldin dieser Oper ist Marta. Sie hat in Auschwitz die Häftlingsnummer 7566, ist polnische Katholikin und eine politische Gefangene. Irgendwie gewinnt Marta die Sympathien der SS-Aufseherin Anneliese Franz. Der Sopranistin Elena Tsallagova hat die Partie der Polin musikalisch sofort zugesagt: "Die Rolle der Marta ist anders als alles, was ich je zuvor gesungen habe. Weil diese Person wirklich existiert hat! Ich habe sogar ein Foto von Marta gesehen. Das macht es schon sehr speziell und nahegehend."
Autorin der Textvorlage ist Zofia Posmysz. Sie hat ihre persönlichen Erfahrungen in Auschwitz und ihre Traumata in dem Buch verarbeitet. Dafür schlüpfte Posmysz in den Kopf der SS-Aufseherin Anneliese Franz. Längst führt die ein sauberes Leben, hat die Zeit im KZ zu den Akten gelegt. Und ihr Ehegatte hat keine Ahnung, was für eine einstige Hitler-Vasallin an seiner Seite lebt. Bis eben Ex-Häftling Marta als Gespenst, als Auschwitz-Auferstandene oder vielleicht auch als reale Passagierin zwischen das Ehepaar tritt. Mitten auf dem Ozean und 15 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.
Tobias Kratzer inszeniert die "Passagierin" in einer eleganten und doch brutalen Ästhetik. Er verzichtet auf stramme SS-Uniformen, auch auf die grau-blaue Sträflingskleidung. Aber sein subtiles Spiel mit dem Streifenmuster als Designelement auf Liegestühlen, Handtüchern oder Freizeithemden lässt Auschwitz allgegenwärtig werden. Zum einen geht es dem Regisseur darum, "an eine entsetzliche Epoche der Weltgeschichte zu erinnern", zum anderen, "auf eine ganz interessante Weise die Frage der Schuld und der Täterschaft zu verhandeln".
Mieczysław Weinberg: "Die Passagierin"
Oper in zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog
Libretto von Alexander W. Medwedew
nach der gleichnamigen autobiografischen Erzählung Pasażerka (1962) von Zofia Posmysz (1923–2022)
Premiere am 10. März 2024, 18:00 Uhr, Nationaltheater München
BR-KLASSIK überträgt die Premiere live im Radio.
Die Musik von Weinberg, komponiert 1968, ist immer wieder überraschend und zieht einen mit. Sie strotzt auch nur so vor Stilen: Mal mutet sie sakral an, dann meint man, ein melancholisches Schlaflied zu erkennen. Mal ahmt das Schlagzeug Schüsse nach, mal suhlen sich die Streicher im sämigen Lieblingswalzer des Kommandanten. Manchmal wird das Bayerische Staatsorchester sogar zur Big Band. Thomas März ist Erster Schlagzeuger im Orchester und hat drei Trommeln vor sich. "Nur Rhythmus allein, das wollte Vladimir Jurowski nicht. Also habe ich in der einen Hand den Besen, der rührt und mit der anderen schlage ich den Rhythmus auf die Trommel."
Lesen Sie ein ausführliches Interview mit GMD Vladimir Jurowski zu Mieczysław Weinberg und seiner Oper "Die Passagierin".
Bei aller Launigkeit der Klänge, bei aller Vielfalt der unterschiedlichen Sprachen, in denen gesungen wird, bei aller Ästhetik in der Umsetzung, bleibt die Oper ein Trauerspiel. Kichernde Prosecco-Laune kommt da in der Pause sicher nicht auf. Die Frage, ob ein Konzentrationslager, in dem zeitweise pro Tag 6.000 Menschen ermordet wurden, zu einem Ort der Kunst gemacht werden kann, das muss jeder für sich beantworten. Oder, noch besser, mit dem Sitznachbarn, der Sitznachbarin diskutieren. Dirigent Vladimir Jurowski jedenfalls ist der Ansicht: Ja, das geht, weil die Autorin Zofia Posmysz vor knapp zwei Jahren gestorben ist. "Solange Zofia Posmysz lebte, hatte sie einen dokumentarischen Wert. Jetzt hat sie plötzlich einen ganz anderen Wert erhalten, einen symbolischen und möglicherweise metaphorischen. Das heißt, man kann sich erst jetzt, weil so viel Zeit vergangen ist, mit jener Zeit künstlerisch auseinandersetzen."
Sendung: "Live aus dem Münchner Nationaltheater - Mieczysław Weinberg: 'Die Passagierin'. Liveübertragung am 10. März 2024 ab 18:00 Uhr auf BR-KLASSIK
Sendung: "KlassikPlus: Der Komponist Mieczysław Weinberg" am 8. März 2024 ab 19:05 Uhr und am 9. März um 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
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