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Kritik – "Boris Godunow" in Hamburg Provokativ zeitlos

Regie-Altmeister Frank Castorf debütiert an der Alster – und das mit Mussorgskys russischer Nationaloper "Boris Godunow". Castorf vermeidet dabei alle Bezüge zur russischen Gegenwart. Eine Provokation. Aber sie lohnt sich.

Alexander Tsymbalyuk spielt als Boris Godunow während der Fotoprobe der gleichnamigen Oper von Modest Mussorgsky, die am 16. September ihre Premiere an der Hamburgischen Staatsoper feiert. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Markus Scholz

Bildquelle: picture alliance/dpa | Markus Scholz

Bereits im September 2020 sollte die Premiere von "Boris Godunow" stattfinden und Frank Castorf, Schauspielregisseur und lange Jahre Intendant der Berliner Volksbühne, damit sein Debüt als Regisseur an der Hamburger Staatsoper geben. Aber Corona und die Abstandsregelungen machten diese Oper mit ihren vielen Massenszenen zunächst unspielbar. Jetzt kommt sie raus. Zwischenzeitlich hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Sicht auf russische Kultur jedoch verändert, sodass sich die Frage stellt: Kann man noch unbefangen, diese russische Oper auf den Spielplan setzen, wie vor drei Jahren?

Castorf setzt nicht auf Aktualisierung

Mussorgskys Oper spielt in der "Zeit der Wirren" im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert, also zwischen Iwan dem Schrecklichen und dem Zarengeschlecht der Romanows, das danach bis zur Revolution 1917 regierte. Der Bojuware Boris Godunow – ein rechtmäßiger, vom Volk gewählter zunächst beliebter Zar? Oder ein Usurpator, der den rechtmäßigen Thronfolger einst als Kind ermorden ließ?

Bei Mussorgskys Oper zuckt man immer wieder zusammen, wenn man erkennt, wie aktuell die "Zeit der Wirren" noch immer zu sein scheint: der Kampf um die Grenze mit Litauen und Polen, die politischen Auftragsmorde, die Rolle der Kirchenführung, die in Umlauf gesetzten Fake News, die Geheimpolizei und die wechselnde, manipulierbare Stimmung in der Bevölkerung. Doch Frank Castorf bleibt in seiner Hamburger Inszenierung ausschließlich bei Anspielungen auf die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts, auf die russische Revolution, auf Stalin, auf die Rolle der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc und die Rolle von Papst Johannes Paul II. –  Vor der aktuellen Geschichte, vor dem 21. Jahrhundert, macht er geradezu provokativ Halt.

Eine schnelle Aktualisierung gibt bei näherer Betrachtung aber in der Tat nicht viel her, denn mit Wladimir Putin hat ja die zwielichtige Figur Boris Godunow kaum etwas zu tun.

Mussorgsky in der Urfassung

Seit 1923 gab es in Hamburg bereits acht Produktionen von Mussorgskys Oper, doch nun wird hier zum ersten Mal die sogenannte Urfassung (1868/69), nicht zu verwechseln mit der späteren "Originalfassung" vorgestellt. Mussorgsky hatte diese Urfassung ohne Erfolg beim Mariinski Theater eingereicht, abgelehnt wurde sie unter anderem mit der Begründung, dass größere Frauenrollen fehlen und fast ausschließlich Männer singen.

Sie ist deutlich kürzer als die späteren Fassungen – die Polenszene mit dem falschen Zaren Dimitry und der Frauenrolle, der herrschsüchtigen Marina fehlt –, doch der damals neuen Auffassung von Musiktheater, wie sie Mussorgsky mit der Komponisten-Gruppe "Das mächtige Häuflein" erdachte, kommt gerade diese Fassung sehr nahe. Es sind sieben, etwas lose zusammenhängende Bilder russischer Geschichte, eigentlich so etwas wie die "Bilder einer Ausstellung", inklusive dreier großer Volksszenen.

Dies unterstreichen in Hamburg vor allem das zitatreiche Bühnenbild von Alexandar Denic und die Kostüme von Adrian Braga Peretzki, eine Installation auf der oft kreisenden Drehbühne, in der Zeiten und Orte ineinander verschachtelt sind: orthodoxe Kirchengebäude, ein U-Boot, stalinistische Denkmäler, Hochspannungsmasten, eine Bar mit Wagen für Serviertablette, aber auch das Bild eines russischen lachenden Astronauten. Schließlich – für Castorf-Inszenierungen eher dezent in der Anwendung – Videoeinspielungen. Ein Stummfilm zeigt die in der Urfassung fehlende Polen-Handlung mit dem falschen Dimitrij und seiner Geliebten Marina. Die Schaulust wird befriedigt und das in nur zwei kurzweiligen Stunden. Bei Castorf-Abenden beginnt da eigentlich frühestens die Pause.

Chor, Orchester und Solisten überzeugen

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Kent Nagano weiß schon in der Ouvertüre sogleich in Bann zu ziehen, die Urfassung gilt als rauer, aber wirkt farbenreich, melancholisch, manchmal spröde, dann wieder voll von groteskem Humor. "Boris Godunow" ist eigentlich eine Oper über das russische Volk – und doch steht auch die Titelrolle im Mittelpunkt. Mussorgsky erkundet den ambivalenten Charakter von Boris. Der wird hier von Alexander Tsymbalyuk verkörpert: weich, zweifelnd, machtgierig, schließlich wahnsinnig, aber auch von tiefer Melancholie zerrissen.

Mussorgsky geht programmatisch, ganz von der literarischen Vorlage Puschkins, vom Text aus. Und so beeindrucken die vielen Männerrollen alle nicht nur als Sänger, sondern auch als Komödianten, falsche Zarensöhne, Mönche, undurchsichtige Intriganten; der chronikschreibende Mönch Primen wird zum Zigaretten rauchenden Stalin (Vitalij Kowaljow), und Matthias Klink treibt als Fürst Schuiskij sein intrigantes Spiel.

Auch der Chor bekommt bei Castorf viel Präsenz und imponiert unter der Leitung von Eberhard Friedrich: Eine Volksmenge, die Castorf wirkungsvoll an der Rampe in Reihe aufstellt. Da stehen sie dicht an dicht, die auf Befehl jubelnden, die murrenden, die heiseren, die Spitzel und Polizeioffiziere und die frechen stehlenden Kinder.

Ein eindrucksvoller Abend

Zur Demonstration für oder gegen russische Kultur wurde in Hamburg der Premierenabend nicht instrumentalisiert. Es gab keine Buhrufe – auch wie sonst meist üblich, für Castorf nicht –, aber überschwänglicher Jubel war ebenfalls nicht zu hören. Und doch war es eindrucksvoller, ja, notwendiger Abend, weil er zum Nachdenken und Weiterdenken über die Widersprüche der russischen Geschichte und Gesellschaft anregt. Und nicht nur der russischen.

Sendung: "Allegro" am 18. September ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (3)

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Sonntag, 24.September, 22:50 Uhr

Leo

Vorstellung am 23.9.2023

Ich war gestern in der zweiten Vorstellung nach der Premiere. Der Zuschauerraum ist zu 60% leer. Die Inszenierung ist von Vorgestern (Coca-Cola in Moskau...). Musikalisch wirklich gut. Trügt mein Eindruck, oder haben die Hamburger trotz Jubelberichterstattung in den Medien keinen Bock auf Castorf? Kann den Verantwortlichen an der Staatsoper egal sein. Die bekommen ihr Geld (vom Steuerzahler) auch wenn keiner hingeht.

Sonntag, 24.September, 08:56 Uhr

R osenbaum

Boris godunow

Eine außerordentlich faire und kluge Kritik, die für das steht, was auch in Zukunft im bayerischen Rundfunk Kultur heißen sollte. Danke!

Mittwoch, 20.September, 06:22 Uhr

Boris in Hamburg

!!!

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