Martha Argerich ist krank. In der Isarphilharmonie sprang deshalb Víkingur Ólafsson am Mittwoch für sie ein – mit zwiespältigem Ergebnis. Antonio Pappano und sein Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia präsentierten außerdem noch einen überraschend modernen Sibelius und zopfigen Prokofiev. Vor allem aber: viel zu viel Torte!
Bildquelle: Andreas Gebert/Gasteig
An Martha Argerich kommt niemand vorbei – auch wenn Vikingur Ólafsson kein schlechter ist. Die Klavierlöwin ist krank, deshalb drückt der Isländer die Tasten. Diesen Monat ist er auch schon für Daniel Barenboim eingesprungen, dem die wackelige Gesundheit bekanntlich schon seit einer Weile zusetzt. Ólafsson ist also sowas wie die ständige Vertretung der pianistischen Ü80-Granden. Und in diesen zwei Fällen passt das auch ganz gut. Ólafsson bringt einerseits den unzerstörbaren rhythmischen Drive von Martha Argerich mit (siehe seinen Rameau) – kann aber auch (siehe seinen Rameau) den pathetischen Nebel, den Zeitlupen-Atem eines Daniel Barenboim.
Zeigen kann er das in München nur bedingt. Auf dem Programm: das Klavierkonzert von Maurice Ravel. Ein virtuoser Comic, dessen zischende Zahnrädchenmechanik in den Ecksätzen an Chaplins "Modern Times" denken lässt. Am besten gelingt Ólafsson allerdings der entrückt-nostalgische Walzer im zweiten Satz, durch den eine endlose Melodie trägt. Ólafsson versetzt sie minimal gegen die dahinwalzende Linke, lässt sie so schweben, stupst sie wie einen Luftballon, der steigen soll, aber immer wieder zurücksinkt, nach Erdung sucht.
"Die Konkurrenzlose" – Lesen Sie hier unser Porträt zum 80. Geburtstag von Martha Argerich.
Insgesamt bleibt das alles aber recht brav. Dissonanzen werden mit Vorliebe verschleiert. Und die jazzigen Parts des Konzerts verstrahlen bei Ólafsson eine Gemütlichkeit, die ein wenig nach Kaffeehaus riecht. Vor allem die rhapsodischen Momente im ersten Satz. Nach dem hypervirtuosen Beginn steht das Klavier plötzlich alleine da, hat Zeit, Carte Blanche. Und Ólafsson? Macht die Sache rund. Erzählt munter weiter. Von der unwirschen Plötzlichkeit einer Martha Argerich keine Spur. Der reizvolle Verdacht, dass hier improvisiert wird, entsteht nicht.
Ein Programm an der Schwelle zur Moderne ist das, was Víkingur Ólafsson und Antonio Pappano mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in der Isarphilharmonie präsentieren. Musik, die noch nicht so ganz entschieden hat, zu welcher Epoche sie eigentlich gehören will. Zu Ravel gesellen sich noch Prokofiev mit seiner zopfig-neoklassizistischen "Symphonie classique" – und Sibelius mit seiner fünften Symphonie.
Víkingur Ólafsson mit dem Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano in der Isarphilharmonie | Bildquelle: Andreas Gebert/Gasteig Dem Finnen hängt ja immer noch der Ruf eines spätromantischen Wald-und-Wiesen-Komponisten an – Adornos wirkmächtigen Giftigkeiten sei Dank. In der Isarphilharmonie zeigt er allerdings ein ganz anderes Gesicht. Diese Fixierung auf Kleinstmotive, die sich über einen dauerflirrenden Orchesterapparat verteilen wie Fetzen in einem Klangstrudel; diese Ungleichzeitigkeit von allem, die sich nur selten in straighte, strahlende Akkordballungen auflöst, an denen man sich kurz festhalten kann, ehe einen der Strudel wieder ins Chaos zieht – moderner wird es nicht an diesem Abend! Einziger kleiner Haken: Die Bläser kommen nicht so richtig zu Zug, vor allem das Holz. Zu satt ist oft der Streichersound. Liegt auch am Saal, klar. Die Isarphilharmonie ist eben ein Subwoofer, mehr Bauch als Spitze.
Da schmatz sogar die "Symphonie classique", obwohl viel sparsamer instrumentiert. Gut tut das diesem Stück nicht, diesem Onkelwitz von einer klassischen Symphonie. In der Isarphilharmonie stellt sich einmal mehr die Frage: Warum ist dieses Ding so populär? Und weil der Abend die Antwort schuldig bleibt: Geht’s nicht auch anders? Das Repertoire ist schließlich groß genug, die Diskussion über den klassischen Kanon schon seit Jahren im Gange. Und trotzdem landen immer dieselben Torten im Programm. Ach Leute.
Sendung: "Allegro" am 26. Januar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Donnerstag, 26.Januar, 13:41 Uhr
Katja Splichal
Differenzierter Blick?
Lieber Tobias Stosiek,
ich finde, sie können gut schreiben. Bildhaft, stringent, reizvoll.
Bitte lesen Sie Ihren Artikel/Kommentar aber einmal mit den Augen eines jungen Menschen, der sich die klassische Musik eben erst erschließt. Für den eine Classique von Prokofjew kein abgetakelter Windbeutel ist sondern das schönste Stück Kuchen, das Fastenbrechen. Ich würde mich freuen, wenn es Ihnen mit Ihrer wunderbar pointierten Schreibe gelänge, mich einzuladen, mehr wissen, mehr erfahren zu wollen, statt mir vor Augen zu führen, wie satt und überdrüssig Sie all dessen sind - ich glaube Ihnen das, alles was Sie schreiben. Aber vielleicht ist die Frage „für wen schreibe ich“ eine, die sich zu stellen lohnt. Mir sagen Sie mit einer solchen Kritik: „geh nach Hause, dummes Gör, wenn dir das gefallen hat, kann’s nur dran liegen, dass du keine Ahnung hast.“
Liebevolle Grüße,
Katja Splichal
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Guter Punkt, liebe Katja Splichal, danke für die konstruktive Kritik!
Ganz herzlich
Tobias Stosiek
Donnerstag, 26.Januar, 12:00 Uhr
Steffen
Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
Ich stimme dem Autor ja zu, dass im heutigen Konzertbetrieb ein bestimmtes Repertoire überrepräsentiert ist, vornehmlich die französichen und russischen Spätromantiker bzw. Frühmodernisten (die Begriffe sind leider unpräzise, da der Begriff der Moderne leider von der unseligen Zweiten Wiener Schule okkupiert ist).
In den letzten hundert Jahren konnte die Befreiung aus einer Erstarrung des Konzertbetriebes nicht durch eine dadaistisches Pseudo-Avantgarde erreicht werden. Am Ende waren die angepriesenen "Meisterwerke" nur eine Geräuschkulisse, welches das Publikum in innerer Meditation aussitzen musste. Die Kritiker forderten aber trotzdem immer wieder mehr "Avantgarde".
Stosiak schlägt nun die nächste Sackgasse vor: Repräsentation angeblich unterdrückter Gruppen. Doch auch hier ist nicht klar, was überhaupt die Werke sind, welche ein Publikum begeistern können. Das ganze ist eine politische Forderung jenseits aller künstlerischen Realität.
Donnerstag, 26.Januar, 10:37 Uhr
Sigbert Lange
In welchem Konzert war der Rezensent?
Leider scheint der Rezensent nicht wirklich Ahnung vom Klavierspiel zu haben - Ólafsson gehört zu den jungen Pianisten, die einen eigenen Stil entwickeln und eben nicht mit Argerich und Barenboim verglichen werden können.
Und nebenbei bemerkt ... was ist das für ein sprachlicher Stil??? Hat Br-Klassik keine Journalisten mehr, die in einem vernünftigen Stil schreiben können? Sehr bedauerlich!
Leider hat mein ehemaliger Lieblingssender in den letzten Jahren deutlich an Niveau verloren.