Am Karfreitag vor 300 Jahren wurde Johann Sebastian Bachs "Johannes-Passion" in Leipzig uraufgeführt. Mit diesem Meisterwerk hat Nikolaus Bachler, Künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele, das diesjährige Festival eröffnet; aber nicht nur konzertant im Originalklang, sondern auch vertanzt von der Compagnie "Sasha Waltz & Guests". Bachs packende Musik und die formbewusste Körpersprache der Choreografin Sasha Waltz – eine herausfordernde Uraufführung.
Bildquelle: Bernd Uhlig
Ecce homo – das Licht geht an auf der leeren Bühne der Salzburger Felsenreitschule, und elf nackte Menschen treten auf. Es sind die famosen Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Sasha Waltz & Guests. Sie setzen sich an einen langen Tresen, auf dem Nähmaschinen aufgereiht sind, und fangen an, ihre Leinengewänder zu nähen – oder sind es Totenhemden? Minutenlang hört man nur das surrende Motorengeräusch, das in elektronische Soundscapes mündet. Und dann erst hebt der gewaltige Eingangschor aus Bachs "Johannes Passion" an: "Herr, unser Herrscher".
Doch seltsam, die Stimmen kommen nicht nur von den paar Choristen auf der Bühne, sondern auch von hinten und seitlich. Erst allmählich wird klar, dass der Dirigent Leonardo García Alarcón die Mitglieder der Chöre aus Namur und Dijon auch im Auditorium verteilt hat. Das ist ein überraschender Effekt, der uns im Publikum sofort miteinbezieht ins dramatische Geschehen. Dieser Surroundsound verschafft Bachs Chorälen eine ganz unmittelbare Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Dank Alarcóns klar phrasierender Schlagtechnik funktioniert das auch technisch erstaunlich gut.
Sasha Waltz bebildert das biblische Geschehen keineswegs eins zu eins, sie erzählt Jesu Leidensgeschichte nicht einfach nach – das hat Bach ja schon so unnachahmlich getan mit seinen Rezitativen, seinen reflektierenden Arien und kontemplativen Chorälen. Stattdessen formt Waltz mit unerschöpflicher Kreativität, Fantasie und Bewegungsenergie immer neue Körperskulpturen, Figuren-Konstellationen, Menschenketten und Leichenberge. Körper, die sich verrenken, verschlingen, verknoten. Requisiten kommen ins Spiel, riesige Mikado-Stäbe, die auch Speere sein könnten – und Ausdruck der Gewalttätigkeit zwischen Menschen damals und heute sind. Und der "bitterlich weinende" Leugner Petrus wird vom Ensemble schamlos ausgelacht – lauthals.
Zu Beginn des zweiten Teils schlägt die Compagnie mit Hämmern brutal auf den Bühnenboden, immer lauter, bis zur Schmerzgrenze – und sofort entsteht im Kopf das Bild dessen, der ans Kreuz geschlagen wird. Nackte Holzrahmen markieren den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, da gelingen Sasha Waltz innige Tableaus aus verschlungenen Leibern. Denn es gibt auch utopische Momente voller Zärtlichkeit und Liebe in ihrer Choreografie – körperliche Nähe als Gegenbild zur aggressiven Hetze der Turba-Chöre, die Waltz ganz heutig als entfesselten Mob inszeniert. Schließlich geht es in der "Johannes-Passion" ja auch um einen Schauprozess. Könnte Bach aktueller sein?
Anspielungen auf die Kunstgeschichte wie eine Pietà, auf die Liturgie, auf den Totenkult und Begräbnisrituale – die Choreografie eröffnet eine Fülle von Assoziationen. Jesus ist hier auch eine Frau. Aber Sasha Waltz wird nie sentimental, frömmelnd à la Oberammergau früherer Zeiten oder gar kitschig. Sie beherrscht die Kunst der Andeutung, der Abstraktion und der Stilisierung. Zwar gibt es zum transzendenten Schlusschoral "Ach Herr, lass dein lieb Engelein" etliche Umarmungen, aber die Himmelsleiter ist dann doch nur ein profanes Haushaltsmodell zum Ausklappen. Und immer hält Waltz das Bewegungsgeschehen organisch im Fluss der teils atemlosen Musik Bachs. Aber sie findet auch zur Ruhe – nach dem "Es ist vollbracht!" lässt sie in völliger Dunkelheit musizieren. Das Chiaroscuro, die Hell-Dunkel-Kontraste der Barockmalerei haben sie gleichfalls inspiriert.
Der Clou ihrer Choreografie ist aber, dass sie die Solisten, die Choristinnen und Musiker der Cappella Mediterranea konsequent ins Bühnengeschehen integriert, direkt mit ihren Tänzerinnen und Tänzern kommunizieren lässt. In dieser Perfektion dürfte das einmalig sein, etwa wenn der Geiger Yves Ytier spielend in tänzerischen Figurationen mitmischt. Überhaupt legt das Originalklang-Ensemble Cappella Mediterranea, das auch Gambe, Erzlaute, Theorbe und Truhenorgel aufbietet, eine herrliche Spielfreude an den Tag. Und deren Leiter Leonardo García Alarcón behält stets den Überblick, obwohl sein Ensemble beidseitig der Bühne, sozusagen doppelchörig postiert ist.
Das Solisten-Sextett reiht sich stimmig in dieses szenische Konzept ein. Herausragend der hell timbrierte Evangelist Valerio Contaldo und der stimmgewaltige Pilatus des Georg Nigl, eine echte Entdeckung ist die herzbewegende Sopranistin Sophie Junker; der anfangs wenig profunde Bassbariton Christian Immler steigert sich als Jesus im Lauf des Abends. Zusammen mit dem fantastischen Lichtdesign von David Finn ist Sasha Waltz ein so nie gesehenes Gesamtkunstwerk gelungen, das natürlich in erster Linie von ihren hochindividuellen, aus der ganzen Welt stammenden Tänzerpersönlichkeiten getragen wird. Ein Abend, der in die Tiefe geht und lange nachwirkt. Standing Ovation und endloser Jubel.
30. und 31. März an der Opéra de Dijon sowie 5. und 6. November im Théâtre des Champs-Élysées Paris
Sendung: "Piazza" am 23. März ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Samstag, 23.März, 16:37 Uhr
Diewald Helmut
Kritik Sasha Waltz
MIKADO Stäbchen haben 2 Spitze Enden.
Die bei der Aufführung gezeigten Teile sind auf einer Seite zugespitzt, auf der anderen Seite sind sie Stumpf, also Speere!
Speere machen wohl Sinn, Mikado Stäbchen garnicht.
Grüße
Dr. Helmut Diewald