Ein Mensch verliebt sich in einen Luftgeist. Gut tut ihm das nicht. Dem Geist auch nicht. Doch faszinierend ist eine solche unheilvolle Liaison natürlich trotzdem. Das Bayerische Staatsballett hat gestern Abend mit "La Sylphide" die erste Premiere der laufenden Saison gezeigt. Das Ballett von 1832 gilt als das erste romantische abendfüllende Handlungsballett. Laurent Hilaire, Direktor des Bayerischen Staatsballetts, hat es nun in einer Rekonstruktion aus den 70er-Jahren nach München geholt. Doch funktioniert das heute noch?
Bildquelle: Katja Lotter
Sie ist ein luftiges Wesen. Als die Sylphide das erste Mal auftaucht, ihren zukünftigen Liebhaber im Traum umgarnt, kurz bevor er aufwacht, entfleucht sie durch den Kamin. Wörtlich. Ballerina Ksenia Shevtsova wird von einer unsichtbaren Konstruktion in einer irren Geschwindigkeit nach oben gezogen. Wutsch, ist sie weg. Das zweite Mal – als James eigentlich schon seiner Braut Effie versprochen ist – taucht sie als Illusion auf, durchsichtig schimmernd auf einem Balkon. Das nächste Mal als Projektion auf einem Spiegel. Und dann, kommt sie ganz real durchs Fenster und besiegelt das Schicksal von James, getanzt von Jakob Feyferlik. Der verliebt sich in das Luftwesen, kann dementsprechend seine Effie doch nicht heiraten. Und am Ende wartet nur ein großes Unglück.
Bildquelle: Katja Lotter Ein ganz großer Erfolg war dieses Ballett zu Zeiten seiner Uraufführung. Und wurde so etwas wie der Prototyp für all diese Ballette mit weißen Akten und Liebesgeschichten zwischen unwirklichen Fabelwesen und wenig verlässlichen Männern. Die Fassung, die das Bayerische Staatsballett nun zeigt, ist eine Rekonstruktion des französischen Choreografen Pierre Lacotte aus den 1970er-Jahren. In einem hyperrealistischen Bühnenbild zeigen die Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie die Welt der schottischen Highlands zwischen den Menschen im ersten Akt und den Sylphiden im zweiten. Und das gelingt – rein tänzerisch – ausgezeichnet. Die Bewegungssprache der Menschen ist geerdet, nah am Boden. Bei den Sprüngen ist die Landung ebenso wichtig wie der Sprung, bei den Arabesken gehen Beine nicht in die Höhe und selbst auf Spitzenschuhen vermitteln die Tänzerinnen das Gefühl, den Boden unter den Füßen eben gerade nicht zu verlieren. Virtuos ist das trotzdem: Die Tänzerinnen und Tänzer haben die französische, detailverliebte und ausgesprochen flinke Fußarbeit, die hier gefragt ist, geübt. Von den Gruppentänzern bis zum Solistenpaar. Höhepunkt: das Pas de Deux von António Casalinho und Margarita Fernandes. Obwohl sie hier nicht streben, nicht über sich selbst hinausspringen können, vermitteln die beiden größte Tanzfreude und lassen die Füße in unzähligen Battue Sprüngen blitzen.
Ksenia Shevtsova tanzt in der Titelrolle | Bildquelle: Katja Lotter Ganz anders aber ist der Part der Sylphide choreografiert. Sie ist nicht geerdet. Der Oberkörper kippt leicht aus der Achse, die Hüfte schiebt nach vorn, als sie durchs Fenster wieder in James Zimmer einsteigt. Ksenia Shevtsova gibt ihr etwas Keckes, Erotisches. Gleichzeitig zieht es sie nach oben, der Körperschwerpunkt ist höher als bei allen anderen Tänzerinnen, sie ist der Welt eigentlich schon abhanden gekommen und verkörpert damit auch – das immer unerreichbare – romantische Ideal. Jakob Feyferlik als James verfällt ihr, der Unkonventionellen. Nach all den braven Formationstänzen im ersten Akt haut er mit ihr, die die Regeln der Gesellschaft doch nur stört, ab. Wirkt dann leicht und wie befreit, tanzt mühelos wirkend das schönste Pas de Deux mit ihr. Doch als James sie an sich binden will, sie ihrer Freiheit berauben will, stirbt sie. Und das tut irgendwie auch gut beim heutigen Schauen. Denn sonst knien hier schon arg viele Frauen vor den Männern, sonst wird Feyferlik als James auch mal im Doppel von Effie und der Sylphide umgarnt.
"La Sylphide" ist ein spürbar altes Stück. Doch so lange der Tanz als Bewegungssprache für sich erzählen darf, ist das auch wunderschön und exzellent getanzt. Einzig die Hexe, die all das Unglück aus dem Hintergrund heraus einfädelt, und in den 70er-Jahren tänzerisch modernes Element dazu gesetzt wurde, ist nicht gut gealtert.
Sendung: "Piazza" am 23. November 2024 um 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK