Ein besonderes Highlight bei den Münchner Opernfestspielen sind stets die Liederabende. Die Riege der Stars hat gestern Abend im Münchner Nationaltheater Plácido Domingo eröffnet, eingesprungen für Anja Harteros. Das Image des 82-jährigen Sängers wirkte zuletzt infolge von MeToo-Vorwürfen angekratzt – eine lebende Legende oder ein Künstler im Herbst seiner Karriere?
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Kollegengespräch
Arienabend von Plácido Domingo in München
Die Spannung steigt im randvollen Münchner Nationaltheater – und dann betritt er die Bühne, frenetischer Applaus brandet auf: Plácido Domingo, in Ehren ergrauter Grandseigneur, wohlbeleibt im Frack, leicht gebückter Gang, der alte Charmeur. Ein Heimspiel für den 82-Jährigen, der hier in der Rolle des Startenors über fünfzig Auftritte hingelegt hat, als Rodolfo, Cavaradossi, Radamès, Otello, Don José, Siegmund oder Werther. Unvergesslich für die Fans, die an diesem Festspiel-Abend in Erinnerungen schwelgen. Vergessen und vergeben die Vorwürfe wegen sexueller Belästigung, die 2019 aufkamen und bislang unbewiesen blieben. Woraufhin Domingo erst abwiegelte – um sich dann doch zu entschuldigen, seine Zusammenarbeit mit der New Yorker Met zu beenden und seinen Posten als Chef der Oper von Los Angeles zu räumen. Die MeToo-Debatte hat den erfolgsverwöhnten Weltstar eingeholt und überrollt – ob er die neuen Zeiten überhaupt verstanden hat?
Die ungetrübten alten Zeiten lebten jedenfalls auf an diesem Liederabend, der eigentlich ein Arienabend war – ohne Orchester freilich, selbst für Domingo eine Premiere, die italienischen Opernarien "nur" mit Klavierbegleitung zu singen. Der irische Pianist James Vaughan erwies sich als einfühlsamer Partner und gewandter Tastenjongleur, auch in den subtil ausformulierten Klavier-Intermezzi aus Puccinis "Manon Lescaut" und den "Goyescas" von Enrique Granados. Im ersten Konzertteil präsentierte sich Domingo als geläuterter Bariton mit Arien aus Umberto Giordanos Revolutionsoper "Andrea Chénier" und als Titelheld in Verdis "Macbeth" – hell timbriert, immer noch kraftvoll, artikulatorisch und gestalterisch auf der Höhe. Die Verdi-Arie "Perfidi!" war schön phrasiert, mit edler Legato-Kultur ausgesungen und kleinen Schluchzern garniert, die den ehemaligen Tenor verrieten. Aber manchmal klang Domingos Stimme doch auch brüchig, Verschleißerscheinungen sind mittlerweile unüberhörbar – und klar, das sonore baritonale Fundament fehlt halt dann doch.
Dazwischen sorgte die amerikanische Sopranistin Jennifer Rowley für Abwechslung – mit der Arie "La mamma morta" aus "Andrea Chénier", bei der das Solo-Cello doch arg fehlte, und mit der herzerweichenden Sterbe-Szene der Manon. Eine Stimme von schwerer Statur, nicht ohne Schärfen und mit leichtem Klirrfaktor. Und wenig koloraturensicher, wie sich im abschließenden Duett aus Verdis "Il trovatore" zeigte, in dem sich Leonora dem sadistischen Grafen Luna andient, um den geliebten Manrico zu retten – vergeblich, wie Opernfreunde wissen. Immerhin erwiesen sich Domingo und Rowley hier als gut aufeinander eingespieltes Duo.
Richtig spannend wird es dann im zweiten Teil des Abends mit Arien aus Zarzuelas, einem bei uns kaum bekannten und gepflegten Genre, der spanischen Operette. Da ist der Madrilene Domingo ganz in seinem Element, präsentiert galant und leidenschaftlich Schmankerl aus seinem Schatzkästlein – Romanzen, Volkslieder, Gassenhauer, die durch seine idiomatische Gesangskunst erst populär wurden. Spanische Komponisten der Jahrhundertwende, die wir gar nicht kennen, deren Sujets um Liebeleien, Koketterien, Herzschmerz kreisen. Und von Domingo mit Inbrunst gesungen werden, ohne je sentimental zu werden. Im hinreißenden Duett aus Manuel Penellas Zarzuela "El gato montés – Die Wildkatze" spielt sich der alte Torero Domingo derart verliebt die Bälle zu mit seiner Gitana Rowley, dass der Applaus Orkanstärke annimmt.
Eine Zeitreise in eine glanzvolle Vergangenheit ist dieser Abend der großen Gefühle und triumphalen Operngesten, irgendwie aus der Zeit gefallen. Der einem aber doch Respekt abverlangt angesichts der Lebensleistung eines Jahrhundert-Sängers, der vokal immer noch etwas zu sagen hat. Plácido Domingo ist eben ein Phänomen. Am Ende Bravi, Trampeln, Standing Ovation des Fan-Clubs für sein Idol und drei Zugaben: das unsterbliche "Granada" natürlich und die Lehár-Hits "Lippen schweigen, ‘s flüstern Geigen" und "Dein ist mein ganzes Herz", auch wenn Domingo beileibe kein Richard Tauber ist. Im Gedächtnis aber bleiben die zutiefst melancholischen Töne Domingos in der Rolle eines Verliebten über die Tränen einer Frau aus Pablo Sorozábals Zarzuela "La tabernera del puerto – die Hafentaverne": "Dass sie um mich zittern, das kann nicht sein. Weil ich nicht weiß, wie mich verstellen, weil ich nicht weiß, wie ich schweigen soll. Weil ich nicht weiß, wie ich leben soll."
Sendung: "Allegro" am 14. Juli ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK