Als "Le Grand Macabre" von György Ligeti 1978 in Stockholm uraufgeführt wird, tobt das Publikum. Aber die Beteiligten sind am Ende mit den Nerven. Der Cellist Olof Nordlund und die Sopranistin Britt Marie Aruhn erinnern sich an die zähen Proben.
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Als György Ligeti endlich mit dem Auftragswerk für die Königliche Oper in Stockholm fertig ist, geht ein erleichtertes Aufatmen durch das Ensemble. Seit 13 Jahren kursiert das Gerücht: Ligeti schreibt eine Oper für euch. Nur, Ligeti liefert leider nichts.
Als das, was der Komponist dann letztlich liefert, auf den Notenpulten liegt, stockt allen der Atem. Was soll das sein? Eine Anti-Anti-Oper. Wo bleibt da die Musik, die Melodie? Wie soll das Gekritzel irgendjemand identifizieren, geschweige denn singen oder spielen können? Was sind das für Instrumente? Woher bitte schön Autohupen hernehmen, Kuckuckspfeifen, Zeitungsrascheln?
Der Cellist Olof Nordlund war bei der Uraufführung der Oper "Le Grand Macabre" mit dabei. | Bildquelle: Kungliga Hovkapellet/Alexander Kenney
Olof Nordlund ist damals Cellist in der Königlichen Hofkapelle. Ligeti kennt er gut von Vorträgen in Darmstadt und von der Zeit, als Ligeti in Stockholm eine Professur hatte. "Eigentlich habe ich kein Problem mit zeitgenössischer Musik. Aber die Oper gefiel mir gar nicht. Nicht nur weil sie kompliziert war, ich habe das 'Warum' einfach nicht verstanden!“, erzählt er in charmantem Deutsch.
Olof Nordlund übt trotzdem, spielt dienstbeflissen, aber Spaß kommt nicht auf. Auch weil Ligeti sich mehr mit den Sängern als den Streichern beschäftigt. "Jede Partie sang er laut mit, das war irgendwie lustig," so der Cellist, "und die Trommeln hatte er auf dem Kieker. Er hat sich unglaublich Mühe gegeben, damit die richtig klingen."
Autohupen, Schluckauf und Rülpsen: In Ligetis Oper "Le Grand Macabre" ist all das bis ins Detail notiert. Dirigent Kent Nagano eröffnet mit dieser Premiere an der Bayerischen Staatsoper die Münchner Opernfestspiele 2024. Das Interview mit Kent Nagano lesen Sie hier.
Die Sopranistin Britt Marie Aruhn. | Bildquelle: Peter Knutson Zum Cast gehört auch die Sopranistin Britt Marie Aruhn. Die damals 34-jährige probt gerade die Partie einer Strauss-Oper, als die Partitur von "Le Grand Macabre" ins Haus flattert, und zwar als Kopie von Ligetis handschriftlicher Fassung. Nun sind Kopien im Jahr 1978 qualitativ keinesfalls vergleichbar mit Kopien unserer Zeit. Und so fragt sich die Sängerin beim Studieren: Welche Note soll das sein? Ist das eine Anweisung oder hat Ligeti nur etwas durchgestrichen?
Die Arbeit an der apokalyptischen Oper zerrt an den Nerven. Dem Cast erschließt sich die verworrene Handlung nicht, auch haben die eher mit Belcanto vertrauten Sängerinnen und Sänger Probleme mit den pornographischen Inhalten: So treibt es in dieser Urfassung ein Paar miteinander, das die aufreizenden Namen "Clitoria" und "Spermando" trägt. Dazu kommt: Ligeti ist alles andere als ein Charmebolzen. "Ligeti hat ja einige Jahre an dem Stück gearbeitet, für ihn war alles klar, aber für uns war das eine komplett neue Musiksprache. Es gab einfach gar nichts, worauf man zurückgreifen konnte", beschreibt Britt Marie Aruhn die Komplexität.
Er wollte sein Ding durchziehen, egal, was mit uns ist.
Als die Sängerin der Clitoria, Elisabeth Söderström während einer Probe erklärt, sie werde die Noten nicht genau so singen können, wie sie notiert sind, kontert Ligeti: "Verehrte Frau Söderström, so soll das aber nicht sein. Sie müssen es so gut singen, wie sie können und so, wie es da steht." Damit hat Ligeti nicht nur Frau Söderström, sondern das gesamte Team verärgert. "Er wollte sein Ding durchziehen, egal, was mit uns ist,“ so Britt Marie Aruhn. Nachdem sich alle beruhigt haben, kommt die zähe, die trotzige Gegenreaktion: "Wir hatten alle das Gefühl, na warte Ligeti, wir werden dir schon zeigen, dass wir das können!"
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Britt Marie Aruhn - Gepopo - Le Grand Macabre
Abgesehen von der delikaten Partitur Ligetis sind auch die Regieeinfälle von Michael Meschke (eigentlich Direktor im Marionettentheater von Stockholm) herausfordernd. Für Britt Marie Aruhn als Chef der Geheimen Polizei, Gepopo, hat er ein Pfauenkostüm vorgesehen. Ihre Fortbewegungsmittel sind Stelzen und Rollerskates. Keines von beidem beherrscht die Koloratursopranistin und übt darum den storchenartigen Gang mit den Stelzen auf dem Bürgersteig vor ihrer Stockholmer Wohnung. Und als sie während der Probenphase zu "Le Grand Macabre" für einige Strauss-Vorstellungen nach London fliegt, hat sie die Rollerskates im Gepäck. Jede freie Minute nutzt sie, um sich das Gleiten auf den Skates in rasantem Tempo vor dem Opernhaus "Covent Garden" anzueignen.
Auch wenn der Weg bis zur Uraufführung am 12. April 1978 in der königlichen Oper Stockholm für alle Beteiligten ein mehr als felsiger war, das Publikum reagiert enthusiastisch! Auch Ligeti ist überglücklich. Trotzdem wird die Oper nur acht Mal gezeigt. Wobei für Britt Marie Aruhn theoretisch noch viel mehr Vorstellungen möglich gewesen wären: "Ich hätte um die ganze Welt reisen und überall den 'Chef der Geheimpolizei' geben können, es kamen so viele Anfragen! Aber ich wollte nicht. Nein, nein, nein und nochmals nein, habe ich gesagt." Ein paar Jahre später gibt sie die ungeliebte Partie dann doch noch einmal in Paris, aber nur, weil sie parallel die Zdenka in Strauss "Arabella" singen kann.
Olof Nordlund hat "Le grand macabre" nach 1978 nie mehr gespielt. Aber er hat sich eine Vorstellung an der Oper in Kopenhagen angeschaut. "Es ist vielleicht zehn Jahre her, ich habe die Autohupen noch gut im Ohr, ich habe auch gelacht, aber am meisten erinnere ich mich an das vorzügliche Essen nach der Vorstellung!", sagt er schelmisch.
Live aus dem Münchner Nationaltheater: BR-KLASSIK überträgt die Premiere von György Ligetis Oper "Le Grand Macabre" am 28. Juni 2024 im Radio.
Für die Sopranistin Britt Marie Aruhn gab es ein Wiederhören mit der Rolle des Gepopo im Jahr 2004. Da erhält die Sängerin eine Anfrage der Königlichen Akademie in Stockholm, ob sie denn nicht nochmal ihre Partie von damals in einem Konzert singen wolle. "Du bist wohl verrückt", erklärt sie dem Anrufer, "ich bin Rentnerin, ich bin 60 Jahre alt, da singt man keine Koloraturpartien mehr. Und die sowieso nicht!"
Damit ist die Sache für Britt Marie Aruhn erledigt. Nicht aber für den hartnäckigen Anrufer. Er meldet sich immer wieder und umgarnt sie freundlichst. Doch die Sängerin bleibt beim eisernen "Nein". Bis sich schließlich der Grund der Anfrage herausstellt: György Ligeti erhält im Jahr 2004 den renommierten schwedischen Polar Music Prize und Britt Marie Aruhn soll für ihn im Stockholmer Konzerthaus singen. "Es musste ja geheim bleiben, dass er den Preis erhält. Das war schon irgendwie lustig, weil ich ja in Ligetis Oper der 'Chef der Geheimpolizei' war," erzählt sie. Also lässt sie sich erweichen, sucht die kritzelige Ligeti-Handschrift von 1978 heraus, bereitet sich einen Monat vor und singt tatsächlich. "Ich habe wirklich jede Note getroffen und war sehr stolz! Dazu hatte ich einen unglaublichen Spaß beim Singen. Erst da, also 2004 habe ich kapiert, wie witzig das Stück ist!"
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Mysteries of the Macabre - Britt-Marie Aruhn
Weil György Ligeti bereits schwer krank ist, besucht er das Konzert zwar nicht, aber schaut sich die Videoaufzeichnung an. Ein Dankesgruß kommt aus seinem Sekretariat. Das größte Lob jedoch erhält Britt Marie Aruhn von B.B. King, dem zweiten Preisträger des Polar Music Prize. Beim Buffet stürmt der Bluessänger und Gitarrist auf sie zu: "Madame", sagt er, "Sie nutzen Ihre Stimme wie ein Instrument, Sie spielen auf ihrer Stimme! Ich habe so eine Stimme noch nie gehört!" Dann nimmt B.B. King den Pin mit einer Gitarre vom Revers seines Jacketts und steckt ihn Britt Marie Aruhn ans Kleid.
Inzwischen wohnt die 80- jährige Britt Marie Aruhn in einem Häuschen auf dem Land, hat es nur zehn Meter bis zum See, erfreut sich an fünf Enkelkindern. Aber die persönliche Geschichte von Ligetis einziger Oper setzt sich in der Familie fort. Einer ihrer Söhne ist Dirigent und hat zu Beginn seiner Laufbahn Ligetis "Le Grand Macabre" in Oldenburg dirigiert.
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