Marco Goecke beschmierte eine Kritikerin mit Hundekot, John Eliot Gardiner ohrfeigte einen Sänger. Jetzt sind beide zurück auf den Bühnen. Sind Publikum und Veranstalter bei Künstlerinnen und Künstlern zu großzügig?
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Der Intendant des Theaters Basel, Benedikt von Peter, spricht von einem "Glücksgriff": Ab Sommer 2025 hat er den so profilierten wie umstrittenen Choreographen und Ausnahmekünstler Marco Goecke als Chef der Ballett-Compagnie verpflichtet. Für nicht wenige Kritiker und sicher auch Tanzfans ist das ein Ärgernis. Sie zeigen sich empört und beschimpfen Goecke als "Kot-Aktivisten", seit er die Ballettexpertin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Wiebke Hüster, im Foyer des Staatstheaters Hannover mit den Hinterlassenschaften seines Hundes beschmierte. Das darauffolgende Strafverfahren wurde gegen Zahlung einer "mittleren vierstelligen" Geldsumme eingestellt, eventuelle Schmerzensgeldforderungen bleiben davon unberührt.
Nun ist Goecke einer der wenigen deutschen Choreographen mit einer unverwechselbaren "Handschrift" und einem ausgeprägten Gespür für Publikumserfolge. Seine spektakuläre Deutung von Fellinis "La Strada" am Münchner Gärtnerplatztheater ist unvergessen. Insofern wundert es nicht, dass er nach wie vor sehr gefragt ist, auch als Ballettchef. Aber ist das einer breiteren Öffentlichkeit und der betroffenen Compagnie vermittelbar? Oder kommt die lukrative Vergebung doch arg schnell?
Dieselben Fragen stellen sich übrigens in weiteren aktuellen Fällen, etwa beim Dirigenten John Elliot Gardiner, der einen Sänger ohrfeigte und trotzdem im Juli in Montpellier wieder am Pult steht, nicht mal ein Jahr nach dem Vorfall. Im Feuer steht auch Berufskollege François-Xavier Roth, Generalmusikdirektor in Köln, der wegen Vorwürfen sexueller Belästigung seine Arbeit bis auf Weiteres ruhen lässt. Einmal mehr wird über den vermeintlich "gottgleichen Status" solcher Führungskräfte im Klassikgeschäft gestritten.
Fest steht: Weder bei Plácido Domingo noch bei Anna Netrebko teilten und teilen deren Fans und deren Vermarkter die politischen Bedenken der Feuilletons. Mag sein, dass hier und da gegen sie demonstriert wird, im Saal werden sie einhellig gefeiert, trotz der Schlagzeilen um ungebührliche Übergriffe und zweideutige politische Einstellung. Insofern stimmt es, dass große Künstler ganz offensichtlich das Privileg genießen, öffentlich vorgetragene Vorwürfe nicht wie Normalbürger "aussitzen" zu müssen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.
Die BR-KLASSIK-Rückschau auf Anna Netrebko im Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Stars leuchten halt heller, da hat es der Schatten schwer. Till Lindemann von "Rammstein" macht es vor. Neu ist das Phänomen nun wirklich nicht: Richard Wagner wurde von dessen Zeitgenossen ja auch buchstäblich alles verziehen, seine Zechprellerei, sein Antisemitismus, sein Opportunismus, sein gelinde gesagt unzeitgemäßes Familienleben.
Allerdings gibt es einen schwerwiegenden Unterschied bei all den genannten Fällen: Wenn sich umstrittene Künstler am freien Markt behaupten, erscheint es unsinnig, sich darüber aufzuregen. Jeder Zuschauer muss selbst wissen, ob er sie mit seiner Eintrittskarte finanziell unterstützen und ihnen somit demonstrativ "vergeben" will. Weder bei Domingo in Salzburg, noch bei Netrebko in Wiesbaden besteht somit Grund für ethisch-moralische Grundsatzdebatten, auch, wenn sich mancher Beobachter über PR-Lobeshymnen von einem "krönenden Abschluss" echauffieren mag.
Anders liegt der Fall bei Führungspositionen in staatlich subventionierten Häusern und somit bei Marco Goecke, denn er wird erneut Personalverantwortung und Vorbildfunktion haben, wie auch Generalmusikdirektoren. Ja, auch die haben natürlich eine zweite Chance verdient, aber doch tunlichst nicht in "Rekordzeit", sondern mit etwas Abstand und klaren Absprachen. Von "Glücksgriffen" sollte bei der Gelegenheit auch nicht unbedingt die Rede sein, sondern wohl eher von einer Bewährungsprobe. Idealisten hoffen in solchen Fällen auf Reue, Romantiker auf Erlösung, wobei das Eine von innen, das Andere von außen kommen sollte. Die Reihenfolge sollte dabei tunlichst nicht durcheinandergeraten, auch nicht in Basel.
Kommentare (2)
Samstag, 08.Juni, 17:01 Uhr
Barboncino
VERGEBUNG
In der Politik ist Rücktritt zu einem Fremdwort geworden, das kaum mehr einer verstehen kann oder will.Weshalb sollte man dann bei Künstlern päpstlicher sein als der Papst und sie mit lebenslangen Auftrittsverboten bestrafen. Wie heißt es so schön :Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein. Ja es sollte schon ein wenig weh tun, deshalb die Bewährungsprobe. Aber danach sollte wieder Frieden einkehren.
Samstag, 08.Juni, 08:09 Uhr
Alexander Seidel
FXR und John Eliot Gardiner
Danke für diesen aufschlussreichen Artikel. Ich , der selbst als Dirigent arbeitet, und natürlich von Gardiner, aber vor allem von FXR enorme musikalische Impulse für mein eigenes Musizieren und für meinen Musikgenuss erhalten habe, kann mir nicht vorstellen, jemals wieder ein Konzert dieser beiden Musiker zu hören / zu besuchen. Meine Enttäuschung ist einfach zu gross. Und zum Thema zweite Chance möchte ich anmerken: solange dutzende von sehr begabten und hoch begabten Dirigenten nicht mal eine erste Chance bekommen (weil es schlicht keine ausgezeichnete Förderung des Nachwuchses gibt, weil alles nur noch über eingefahrene Kanäle läuft, weil keiner mehr von den Agenturen z. Bsp. in der Provinz zuhören geht und sehr begabte Dirigenten aus der Barockszene beim Auftritten mit Chören anhört) sollten wir nach solchen Vorkommnissen auch keine zweite Chance gewähren. Man sollte wissen, was für ein Geschenk es ist, wenn man mit solchen Spitzenensembles zusammen arbeiten darf.