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Martial Solal ist tot EIN WELTMEISTER GEISTBLITZENDER TÖNE

Eine Karriere von rund 70 Jahren – mit Klavier-Tönen, die funkelten und wirbelten wie bei den wenigsten. Der Pianist Martial Solal galt als der bedeutendste französische Jazzmusiker nach der Jahrhundertfigur Django Reinhardt. Am 12. Dezember ist er im Alter von 97 Jahren in Versailles gestorben.

Pianist Martial  Solal | Bildquelle: TJ Krebs

Bildquelle: TJ Krebs

Wer Musik von ihm hört, muss Multitasking-Ohren haben. Denn dieser Pianist spielte und dachte schneller als die meisten. Da huschten Themen und kleine Zitate vorüber wie rasant ineinander geschnittene Filmszenen. Am Ende eines Stücks glaubt man, mehrere auf einmal gehört zu haben. Ein einzigartiges Erlebnis – das man sich seit einigen Jahren nur noch mit Hilfe von Tonkonserven verschaffen konnte. Am 23. Januar 2019 gab der Pianist Martial Solal im Alter von 91 Jahren auf der Bühne der Pariser Salle Gaveau feierlich – und geistblitzend wie eh und je – sein letztes Konzert, dokumentiert auf dem Album "Coming Yesterday: Live at Salle Gaveau 2019". Wie sein Sohn Eric Solal mitteilte, ist dieser große europäische Jazzmusiker am Donnerstag in einem Krankenhaus in Versailles im Alter von 97 Jahren gestorben.

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Martial Solal Trio - Jazzfestival Viersen 2007

EIN GIGANT DES JAZZ AUS FRANKREICH

Eine lange und glänzende Karriere hatte Martial Solal hinter sich. Weltstars wie Oscar Peterson und Duke Ellington bewunderten ihn. Und das nicht von ungefähr: Martial Solal war zu seinen rund 70 aktiven Jahren einer der besten Jazzpianisten der Welt sowie ein vorzüglicher Big-Band-Chef und herausragender Komponist, zum Beispiel von einigen berühmten Filmmusiken. Nicht umsonst wurde ihm ein Rang zugesprochen, der diesen Pianisten als bedeutendsten französische Jazzmusiker direkt nach dem Gitarristen Django Reinhardt einordnete, der einst den ersten eigenständigen europäischen Jazzstil geprägt hatte. Martial Solal war ein Virtuose mit unfassbar vielfältiger Technik, er konnte alles, was im 20. Jahrhundert am Jazzklavier möglich war. Doch er sagte: "Ich habe nie Platten angehört, denn ich wollte niemandem ähneln – auch nicht denen, die ich bewunderte."

MAXIME: NIE SKLAVE DER SPIELTECHNIK SEIN

Wenn er Klassiker wie "Over the Rainbow" in vielen Farben schimmern und ständig wechselnden Rhythmen leuchten ließ, wirkte sein Spiel stets mühelos. Doch es war fein erarbeitet. Die Klarheit der Stimmführung, das ungemein sichere Gespür für dynamische Nuancen, der Sinn fürs funkelnde Herausarbeiten von Pointen: Das alles erlebte man bei Martial Solal auf allerhöchstem Niveau. Eine spieltechnische Beherrschung wie seine ist auch in der Weltklasse des Jazz nicht selbstverständlich. Solal äußerte sich zur Frage der Spieltechnik einmal wie folgt: "Das, was man sagen möchte, kann man nur mit einer guten Technik aussagen. Wenn du freilich Sklave deiner Technik bist, kannst du keine gute Musik machen." Nach dieser Maxime musizierte er auch. Er verfügte über die Technik, nicht sie über ihn. Sie war Mittel zum Zweck für ein Spiel von stets überraschendem Ideenreichtum.

VORBILDER: ART TATUM, BUD POWELL, FATS WALLER

Inspiriert wurde der Franzose dazu nicht zuletzt von Vorbildern wie dem Klavier-Überflieger des frühen Jazz, Art Tatum. Dieser Amerikaner nahm von den 1930er Jahren an Stücke auf, die wie ein Wirbelwind durch die Gehörgänge fegten. Aber auch der dichte moderne Klavierstil von Bud Powell, einem der großen Initiatoren des modernen Jazz, der 1959 nach Paris zog, hat Solal geprägt. Sowie, viel früher schon, der Klangwitz von Fats Waller. Seit Jahrzehnten machte der französische Virtuose Solal wiederum selbst Schule. Nicht zuletzt wurde sein Name zum Signalwort und Gütesiegel eines berühmten Wettbewerbs für junge Pianisten: des 1989 gegründeten "Concours Martial Solal", den der Pianist auch selbst leitete (bis 2010 zuletzt alle vier Jahre).

DISKRIMINIERUNG DURCH RASSISTISCHE POLITIK

Die französische Pianolegende Martial Solal beim Konzert am 14. Dezember 2018 in Ottobrunn. | Bildquelle: Thomas J. Krebs Martial Solal am 14. Dezember 2018 in Ottobrunn | Bildquelle: Thomas J. Krebs Martial Solal wurde am 23. August 1927 in Algier als Sohn französischer Eltern geboren. Seine Mutter war Opernsängerin und führte ihn früh zur Musik. Er wurde in jungen Jahren vertraut gemacht mit der Klaviermusik von Bach bis Debussy, außerdem lernte er Klarinette und Saxophon. Nachdem 1940 das französische Vichy-Regime die Rassenpolitik der Nazis auch in den französischen Territorien Afrikas anwandte, musste Martial Solal als Sohn eines jüdischen Vaters die Schule verlassen.

DER REIZ DES VERBOTENEN

Musikalisch brachte ihn ein Privatlehrer weiter. Dem Musikjournalisten John Fordham erzählte Solal 2010 für den britischen "Guardian" über diese Zeit Folgendes: "Mein Lehrer in Algier war ein Nachbar meiner Tante: ein großer, dicker, beeindruckender Kerl, der Klavier, Saxophon, Schlagzeug, Akkordeon, Klarinette, Trompete, also einfach alles spielte. Als ich ihn Jazz spielen hörte, haute mich das um: Ich wurde sein Schüler, dann schloss ich mich seiner Band fünf Jahre lang an, um darin Klavier zu spielen und Klarinette im Stil von Benny Goodman. Es war nur Tanzmusik – Tango, Walzer, ein bisschen Jazz. Und es war 1941 oder 1942, also wussten wir nichts von Charlie Parker und der Moderne. Aber es genügte." Später – in einer Veranstaltung in der Nähe von München – sagte er über die Musik seines damaligen Lehrers: "Ich wusste gar nicht, dass es Jazz war. Aber ich wusste, es war ein bisschen verboten. Und was verboten ist, ist immer interessant."

AUFNAHMEN MIT DJANGO REINHARDT

Martial Solal  | Bildquelle: Tikemyson Martial Solal | Bildquelle: Tikemyson Bereits 1945 wurde Martial Solal professioneller Musiker. Und schon während der Kriegsjahre hatte er in Marokko, wo er seinen Militärdienst ableistete, für amerikanische Soldaten Jazz gespielt. 1950 zog er dann nach Paris. Er fand Arbeit bei Orchestern und machte diverse Aufnahmen mit unterschiedlichen französischen Musikern – 1953 etwa auch mit Gitarrist Django Reinhardt, an der Seite von Bassist Pierre Michelot, der ebenfalls ein bedeutender französischer Jazzer der Nachkriegsgeneration werden sollte.

BEGLEITER AMERIKANISCHER STARS IM PARISER STADTTEIL SAINT-GERMAIN-DES-PRÉS

Bald gründete Solal ein Trio mit Schlagzeuger Daniel Humair und Bassist Guy Pedersen, spielte in einem Quartett mit dem Trompeter Roger Guérin – und machte sich allmählich einen großen Namen in Frankreich. Im Club Saint Germain im 6. Arrondissement von Paris sowie an anderen einschlägigen Jazz-Spielorten begleitete er große amerikanische Solisten wie Chet Baker und Stan Getz und den in Frankreich lebenden Sidney Bechet. 1963 wurde Solal dann zum Newport Jazz Festival in den USA eingeladen, wo mit Bassist Teddy Kotick und Schlagzeuger Paul Motian eine vielbeachtete Aufnahme mit Standards wie "I got rhythm" entstand.

KEIN FAN VON FLUGZEUGEN

In den frühen 1960er Jahren hatte Martial Solal es in der Hand, auch im Mutterland des Jazz, in den USA, Karriere zu machen. Er hatte aber bereits Familie und blieb in Frankreich. In den USA war er selten präsent. In einem Interview für das Magazin "France – Amérique" sagte er 2008: "Ich fing 1963 an, in den USA zu spielen, und bin nur ungefähr zwanzig Mal wieder gekommen. Um eine große Karriere in einem Land zu machen, muss man dort sein und oft spielen. Ich bin aber nicht gerade ein Fan von Flugzeugen und habe daher mehrere Konzerte in den Vereinigten Staaten abgesagt."

GODARDS FILMKLASSIKER "AUSSER ATEM"

Von Frankreich aus hat Martial Solal eine vielfältige und prägnante Karriere gemacht – nicht zuletzt mit Filmmusik. Bereits 1960 erschien Jean-Luc Godards epochemachendes Kino-Opus "A bout de souffle" (Außer Atem) – mit Musik von Martial Solal. Und noch viele Jahre später, nämlich im Jahr 1999, zeichnete der Pianist für die Musik von Bertrand Bliers Film "Les Acteurs" verantwortlich. Als Komponist hat er sich auch im klassischen Bereich einen Namen gemacht: Er schrieb eine Reihe von Kammermusikstücken, aber auch ein Klavierkonzert, diverse Klavier-Etüden – und Solostücke etwa für Fagott oder Cembalo.

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Breathless(A Bout De Souffle) soundtrack - New York Herald Tribune

"EIN ARRANGEUR IST AUCH EIN KOMPONIST"

Fast wie mit dem Klavier ging Solal auch mit großen Jazz-Besetzungen um: Seine Dodeca-Band wurde weltweit bekannt. Mit ihr interpretierte Solal unter anderem Stücke von Duke Ellington in ganz eigener Tönung. Auch in seinen Arrangements für die Big-Band-Besetzung ließ Martial die Stimmen voller Witz funkeln, ging oft weit weg von den Themen, die immer wieder spukhaft aufflackerten, eingebunden in ein komplexes musikalisches Geschehen, das viel auch von klassischer Musik des 20. Jahrhunderts – etwa Kompositionen von Strawinsky und Bartók – beeinflusst war. Er wolle zeigen, dass ein Arrangeur eigentlich auch ein Komponist ist, sagte Solal einmal über seine Big-Band-Bearbeitungen von Klassikern.

FRANZÖSISCHE SPEZIALITÄT: ESPRIT

Als Pianist hat Solal mit vielen weltberühmten Kollegen gespielt – mit Toots Thielemans, mit Lee Konitz und John Scofield, mit Attila Zoller und Hans Koller – und nicht zuletzt mit Django Reinhardts Weggefährte Stéphane Grappelli. Seine Kabinettstücke hat er aber als Solo-Pianist veröffentlicht – auf Alben wie "Nothing But Piano" und "The Solosolal". Spielerischen Witz haben nicht nur seine Töne, sondern auch die Titel seiner Platten und Kompositionen. "Solalitude" nannte er eines seiner Stücke: eine Zusammenziehung des Namens Solal mit dem französischen Wort für Einsamkeit, "Solitude". Ein Musiker mit viel Hintersinn: In seinen Stücken und seinem Klavierspiel steckt stets ein bisschen mehr, als man aufs erste ahnt.  Um seine Musik treffend zu beschreiben, verwendet man am besten ein französisches Wort: Esprit. Dieses Wort gibt es auch im Deutschen – als Synonym für Geist, Scharfsinn, Schlagfertigkeit, Witz. Das alles findet man in den Tönen von Martial Solal – die zugleich von einer fesselnd unmittelbaren Musikalität getragen waren. Ein Jazz-Großmeister – und so langlebig wie er selbst dürften auch die Klänge sein, die Martial Solal in die Welt gesetzt hat. Live vermisste man diese Töne schon seit Jahren. Und nun müssen sich die Fans endgültig von ihrem geistsprühenden Urheber verabschieden.

Sendung: "Leporello" am 13. Dezember 2024 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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