Der Karwoche und die "Matthäus-Passion" – für viele Menschen gehören sie so fest zusammen wie der Tannenbaum und Weihnachten. Ganz zweifellos ist Bachs Komposition eines der großen Kunstwerke der Menschheitsgeschichte. Warum ist das so? BR-KLASSIK fasst die wichtigsten Fragen und Antworten zur "Matthäus-Passion" zusammen.
Bildquelle: picture alliance/akg-images
Zwei Chöre, zwei Orchester und zweieinhalb Stunden Musik: Bachs Matthäus-Passion ist der Mount Everest der Barockmusik. Schon die Bach-Familie nannte sie ehrfurchtsvoll die "große Passion". Und das nicht nur aufgrund der äußeren Dimensionen, sondern auch wegen ihrer gedanklichen Tiefe. Bis heute hat die Matthäus-Passion viele Menschen im Innersten bewegt. Friedrich Nietzsche hörte sie dreimal hintereinander, "jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung". Rainer Maria Rilke staunte über die "wahren Schmerzgebirge", die sich beim Hören vor ihm auftürmten. Sogar der Sozialist Karl Liebknecht war nach der intensiven Beschäftigung mit Bachs Passion "ganz berauscht von Seligkeit". Und der zum Tode verurteilte Widerstandskämpfer Klaus Bonhoeffer bekannte vor seiner Hinrichtung, er brauche nichts weiter – er habe ja die Matthäus-Passion bei sich.
Am Karfreitag, den 11. April 1727 wurde die Matthäus-Passion in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt. | Bildquelle: picture alliance / Heritage Images | Fine Art Images
Am Karfreitag, den 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche. Höchstwahrscheinlich jedenfalls – denn das Datum lässt sich nur indirekt erschließen. Weder ist ein Programmbuch erhalten, noch gibt es Tagebucheinträge oder gar Zeitungsberichte. Paradox: Das Stück, das heute zu den Gipfelwerken der Barockmusik zählt, hat im Musikleben des 18. Jahrhunderts kaum Spuren hinterlassen. Zu Bachs Lebzeiten sind nur eine Handvoll Aufführungen belegt: 1729, 1736 und dann nochmal in den 1740er Jahren, jeweils in Leipzig. Eine nennenswerte überregionale Wirkung gab es nicht, die Partitur wurde auch nicht gedruckt. Dass es heute jedes Jahr vor Ostern unzählige Aufführungen der Matthäus-Passion gibt, dass sie jeder Chor, der etwas auf sich hält, im Repertoire hat, dass sie sogar in Japan und Chile gesungen wird – das hätte Bach vermutlich sehr verwundert.
Wahrscheinlich um die vier Stunden – obwohl die Musik "nur" gut halb so lang ist. Aber die Passion war eben nur ein Bestandteil der nachmittäglichen Karfreitagsvesper zur Todesstunde Jesu, die abwechselnd in der Leipziger Nikolai- und in der Thomaskirche stattfand. Nach dem Glockenläuten wurde dort erst einmal ein Gemeindelied gesungen, dann folgte der erste Teil der Passion. Im Zentrum stand dann die etwa einstündige Predigt, bevor sich der zweite Teil der Passion anschloss. Hinzu kamen weitere Lieder und Motetten und ganz am Schluss der Choral "Nun danket alle Gott". Man brauchte also mindestens soviel Sitzfleisch wie heute beim Besuch des Bayreuther Festspielhauses – noch dazu eng gedrängt auf kalten Kirchenbänken…
Erzählt wird die Leidensgeschichte Jesu, wie sie der Evangelist Matthäus überliefert hat: vom Beschluss des Hohen Rates über die Salbung in Bethanien, das letzte Abendmahl, das Gebet am Ölberg, die Gefangennahme, das Verhör vor dem Hohen Rat, die Verurteilung durch Pilatus und die Kreuzigung bis schließlich zum Tod und zur Grablegung.
Musik zur Passions- und Osterzeit auf BR-KLASSIK
In diesen biblischen Text (in der Luther-Übersetzung) hat nun aber der Leipziger Lustspieldichter und Steuereinnehmer Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, noch weitere Texte eingeflochten, die das Geschehen andächtig reflektieren. Diese Arien-Texte hat Picander als Dialog zwischen der "Tochter Zion" und den "Gläubigen" angelegt. Erstere repräsentiert als allegorische Figur die Urchristen zur Zeit Jesu, letztere stehen für die Leipziger Gemeinde zur Zeit Bachs. Auf diese Weise wird nicht nur die biblische Geschichte ins Hier und Heute geholt; Picanders Konzeption hat zudem auch massiven Einfluss auf Bachs musikalische Gestaltung.
Die Dialogstruktur des Textes inspirierte Bach zu einer doppelchörigen Komposition: der erste Chor steht für die Tochter Zion, der zweite für die Gläubigen. Jedem Chor ist zudem sein eigenes Orchester zugeordnet. Womöglich waren die beiden Interpretengruppen 1736 sogar auf zwei weit voneinander entfernten Emporen der Thomaskirche postiert, was für spektakuläre Surroundeffekte gesorgt haben dürfte (wenn denn in der Praxis alles so funktioniert hat, wie Bach es sich ausgedacht hatte). Alle Solisten, auch Jesus und der Evangelist, waren einem der beiden Chöre zugeordnet und sangen dort mit.
Wie aber hat man sich so einen Chor vorzustellen? Es hat sich ja inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass Bachs Leipziger Kantaten vermutlich überwiegend solistisch besetzt waren (und zwar ausschließlich mit Knaben- oder Männerstimmen) – also pro Stimme mit einem oder höchstens zwei Sängern. Denn an den Sonntagen mussten die Thomaner auf parallel stattfindende Gottesdienste in vier unterschiedlichen Kirchen verteilt werden. Anders am Karfreitag Nachmittag: Die Vesper war konkurrenzlos, Bach standen also potentiell rund 50 Sänger zur Verfügung. Man kann also vermuten, dass die beiden Chöre der Matthäus-Passion doch ein wenig üppiger als sonst besetzt waren…
Schöpfer der Matthäus-Passion: Johann Sebastian Bach | Bildquelle: Hausmann
Sie ist ein vielschichtiges Gebilde, dessen Architektur man vielleicht anschaulich mit einem Kirchenbau vergleichen kann. Stellen wir uns also vor, dass die Haupthandlung vorne im Altarraum spielt: die Verurteilung und Kreuzigung Jesu, wie sie im Evangelienbericht aus dem 1. Jahrhundert beschrieben wird. Im Kirchenschiff sieht die Gemeinde dem Geschehen zu und reagiert spontan darauf – mit den traditionellen Chorälen aus dem 16. Jahrhundert, die Bach immer wieder als Kommentare zum Evangelium einstreut. Oben auf der Empore wird das Geschehen zugleich aus einer gewissen Distanz betrachtet und reflektiert – hier findet quasi die Nebenhandlung statt, die Picander neu gedichtet hat und von Bach durch Accompagnato-Rezitative und Arien umgesetzt wird. Und getragen und zusammengehalten wird das ganze Gebäude durch drei wuchtige Säulen: den Eingangschor, die große Choralbearbeitung am Ende des ersten Teils und den Schluss-Chor.
Das vielleicht größte Wunderwerk ist gleich der Eingangssatz: ein Dialog zwischen den beiden Chören in schmerzhaftem Moll und vorwärtsdrängendem 12/8-Takt. Sofort fühlt man sich in die engen Gassen Jerusalems versetzt, wo das Drama seinen Lauf nimmt. Der erste Chor (die "Tochter Zion") ist direkt Augenzeuge, der zweite Chor ("die Gläubigen") muss dagegen immer nachfragen, was denn eigentlich da vorne geschieht. Das Hin und Her zwischen den beiden Chören und Orchestern wird im Mittelteil überstrahlt vom Choral "Oh Lamm Gottes unschuldig", der von einem dritten Chor aus (Knaben-)Sopranen eingewoben wird, so als ob plötzlich der Himmel aufbräche – ein kontrapunktisches Kunststück, das unter die Haut geht.
Bachs "Matthäus-Passion" auf CD mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Auch in einigen Arien und im Schlusschor wird diese doppelchörige Struktur fortgeführt. Die größte Wirkung entfalten aber nicht unbedingt die Arien mit der größten kontrapunktischen Komplexität, sondern die mit der berührendsten emotionalen Tiefe. Ganz vorne steht dabei die Alt-Arie "Erbarme dich", die auf die Verleugnung durch Petrus reagiert und Reue und die Hoffnung auf Vergebung auf herzzerreißende Weise zum Ausdruck bringt. Aber auch die innige Sopran-Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben" (ohne Bassfundament, stattdessen mit zwei Oboen da caccia) oder die letzte Arie der Passion, die Bass-Arie "Mache dich, mein Herze, rein" mit ihren tröstlichen Terz- und Sextparallelen, gehören zu den Perlen im Bach’schen Schaffen und büßen auch in rein instrumentalen Arrangements wenig von ihrer Wirkung ein.
Den Evangeliumstext hat Bach demgegenüber vergleichsweise schmucklos vertont, dafür aber vielfach tonsymbolisch aufgeladen. Meisterlich in der Verknappung und dramatischen Zuspitzung erscheinen die Chöre der Menschenmenge, während Jesus stets von einem Heiligenschein aus Streicherklängen umgeben ist – nur bei seinen letzten Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" verlässt ihn auch der Streicherglanz.
Carl Friedrich Zelter, Leiter der Berliner Sing-Akademie, besaß eine Kopie von Bachs Passion und führte gelegentlich einzelne Sätze daraus auf. Dadurch weckte er die Begeisterung des jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy, der das Werk am 11. März 1829 zum ersten Mal nach fast hundert Jahren wieder zur Aufführung brachte und damit eine regelrechte Bach-Renaissance auslöste. Allerdings hatte Mendelssohn erheblich in das Werk eingegriffen: Mehr als die Hälfte der Arien fehlte, sogar der Bibeltext wurde gekürzt, Frauenstimmen ersetzten die Knaben, und anstelle der beiden kleinen Chöre stand ein 158köpfiger Chor auf der Bühne. Gleichwohl sollte Mendelssohns romantisierende Auffassung die Aufführungstradition bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein prägen.
Ja – zumindest könnte auch Bach, der wie jeder Barockkomponist in erster Linie anlassbezogene Gebrauchsmusik komponierte, das so gesehen haben. Immerhin erstellte er 1736 von seiner "großen Passion" eine Prachthandschrift, in der er den Bibeltext und den Eingangschoral "O Lamm Gottes unschuldig" mit blutroter Tinte hervorhob. Das hat er in keinem anderen Autograph getan. Er scheint sich also durchaus bewusst gewesen zu sein, dass dieses Werk etwas Besonderes ist – ein Stück, das die Menschen bewegt bis zum heutigen Tag.