Sie war 2021 die erste Dirigentin in der Geschichte der Bayreuther Festspiele: Oksana Lyniv. Dieses Jahr dirigiert sie "Der fliegende Holländer". Und sagt von sich: "Bayreuth hat eine fast schon therapeutische Wirkung auf mich."
Bildquelle: Oksana Lyniv, Fotograf: Serhiy Horobets
BR-KLASSIK: Frau Lyniv, bezogen auf Wagners Holländer, in dem das Meer eine gewisse Rolle spielt, im übertragenden Sinn: Wie ist denn der Wellengang heuer in Bayreuth am Festspielhügel?
Oksana Lyniv: Ich bin jetzt schon im dritten Jahr bei den Festspielen, also keine Anfängerin mehr. Und ich freue mich sehr, nach Bayreuth zurückzukommen. Weil ich spüre, dass die Erfahrung von den Jahren davor sehr hilft. Nehmen wir die berühmte unangenehme Verzögerung beim Klang aus dem Graben, die Koordination mit der Bühne. Im dritten Jahr spüre ich das nach den ersten zehn Minuten fast gar nicht mehr, habe wieder das Gefühl, was man da machen soll. Dann kann man direkt weiterarbeiten, sich vertiefen in die Partitur und noch mehr rausholen, was man eigentlich will.
BR-KLASSIK: Ok, Sie haben das Holländer-Schiff schon einigermaßen unter Kontrolle. Wie ist es denn abseits Ihrer Produktion? Wie jedes Jahr gibt es vor der Premiere ein bisschen Geraune in der Presse und den Medien. Heuer war es ja so, dass es noch Karten gab für einige Vorstellungen. Dann die Diskussion um die AR-Brillen bei der Produktion von Parsifal – ist das Thema bei Ihnen in der Holländer Produktion?
Oksana Lyniv: Mein Team und ich sind sehr auf die Arbeit konzentriert, und wir sind sehr positiv, optimistisch. Aber wenn wir ehrlich sind, dann ist es auch nichts Ungewöhnliches. Es gibt praktisch keinen Sommer in Bayreuth, in dem es keinen kleinen Skandal gibt oder emotionale Diskussionen. Das gehört schon zur Tradition des Hauses. (lacht) Aber das Festspielhaus ist schon eine Kontroverse an sich.
Wenn Wagner jetzt gelebt hätte, wäre er der Erste, der verschiedene neue Technologien gern ausprobiert hätte.
BR-KLASSIK: Inwiefern?
Oksana Lyniv: Einerseits ist es ein Unikat, die besondere Architektur, der Orchestergraben, und vor allem der Werke-Kanon und die Tradition mit so manchen Regeln. Andererseits war Wagner selbst, als Person, als Künstler, Komponist, Denker, Philosoph alles andere als Traditionalist, er hat stattdessen gerne mit der Tradition gebrochen, hatte viele riskante Ideen. Und es gibt ja diesen berühmten Satz von ihm: "Kinder, schafft Neues!" und ich glaube, wenn Wagner jetzt gelebt hätte, wäre er der Erste, der verschiedene neue Technologien gern ausprobiert hätte. Also das ist meine Meinung.
BR-KLASSIK überträgt von den Bayreuther Festspielen die diesjährige Premiere von Richard Wagners Oper "Der Fliegende Holländer" live am 1. August ab 17.57 Uhr.
BR-KLASSIK: Wenn wir das von Ihnen schon erwähnte Wagner-Zitat noch mal aufnehmen, wieviel "Neues" ist denn in der Holländer-Lesart von Oksana Lyniv drin? Wo wollen Sie noch mal was Anderes machen? Wo sehen Sie sich im Vergleich der riesigen Palette an großen Einspielungen und Dirigaten der Vergangenheit?
Oksana Lyniv: Zuerst ist es gar nicht mein Ziel, unbedingt etwas Neues zu machen. Mein Ziel ist, die Partitur – also die Geschichte des Dramas – so genau wie möglich zu lesen und musikalisch viele Details erarbeiten zu können, damit das Stück lebendig wirkt. Weil die drei Aufzüge ja in einem durchgespielt werden, kann es sein, dass die Spannung in der Mitte plötzlich abfällt...
Lesen Sie hier die BR-KLASSIK-Premierenkritik zu Oksana Lynivs erstem Dirigat in Bayreuth 2021.
BR-KLASSIK: Wie schaffen Sie es, die Spannung zu halten?
Oksana Lyniv: Ich bin selbst vollkommen drin in der Szene, auch emotional. Nehmen wir den Auftritt Holländer, als er und Senta sich das erste Mal begegnen. Senta hat schon so viele Jahre diese Geschichte gehört, das Bild an der Wand angeschaut. Jeden Abend, jeden Morgen denkt sie darüber nach, ob sie diesen Mann jemals treffen wird – und dann steht er da. Und sie spürt es sofort. Und in dem Moment bin ich Holländer und Senta, spüre die Pauke als Herzschlag von ihm, der sich nicht sicher ist, ob es die Richtige ist oder ob er doch wieder weiterziehen muss für sieben Jahre. Also ich suche in jedem Detail der Partitur, jedem Akzent, jeder Pause und das hilft mir auch, insgesamt die richtigen Tempi und Verhältnisse zu finden.
BR-KLASSIK: Lassen Sie uns noch über die Umstände reden – der Krieg beherrscht nach wie vor die Nachrichten. Was macht das mit Ihnen? Sind Sie irgendwie zu einer Art Alltag gekommen? Ist es überhaupt möglich für sie als Ukrainerin?
Oksana Lyniv 2021 bei der Eröffnung der Bayreuther Festspiele. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Nicolas Armer Oksana Lyniv: Einerseits versucht man sich mit Arbeit abzulenken, aber das ist nie ganz möglich, die Spannung bleibt. Meine ganze Familie lebt in der Ukraine. Letztens war es wieder sehr heftig, als Odessa bombardiert wurde, dort leben meine Schwiegereltern und ich habe dort fünf Jahre als Dirigentin gearbeitet. Natürlich verfolge ich das alles, emotional bleibt man sehr gespalten, wenn man hier arbeitet. Auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass Bayreuth eine fast schon therapeutische Wirkung auf mich hat. Jedes Mal, wenn ich herkomme, bleibe ich unterhalb des Festspielhauses auf einer Bank sitzen, bleibe still. Die Stücke von Wagner sind psychologisch so reich, dass man immer eine Figur oder eine Szene hat, die man auf sich und seine Lage übertragen kann – ein musikalisches Motiv, das deine Seele in dem Moment gerade mitschwingen lässt.
Die philosophische Ebene bei Wagner hilft mir oft, mein eigenes Leben tiefer zu begreifen.
BR-KLASSIK: Ist das bei Wagner stärker als bei anderen?
Oksana Lyniv: Bei mir schon. Das ist ganz interessant. Nehmen wir Puccini, meinen anderen Lieblingskomponisten: Bei ihm geht es immer um die echten Menschen, die echten Emotionen aus dem Leben. Und bei Wagner ist ja alles auf mythologischen Stoffen aufgebaut, hat viel mit Legenden und Symbolik zu tun. Dadurch wird es zwar etwas indirekter aber auch universeller, und zeitloser. Diese philosophische Ebene bei Wagner hilft mir oft, mein eigenes Leben tiefer zu begreifen.
BR-KLASSIK: Abschließend ein kleiner "Wagner-für-Anfänger"-Test: Können Sie den "Holländer" in einem Satz zusammenfassen?
Oksana Lyniv: Es gibt einen verfluchten Seefahrer auf der Suche nach einem treuen Mädchen, das ihn über alles liebt, und naja… er findet sie. (lacht)
BR-KLASSIK: Happy end?
Oksana Lyniv: Ja, trotz einiger Schwierigkeiten dazwischen. Aber er und sie sind erlöst, ja.
Sendung: "Allegro" am 28. Juli 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Dienstag, 01.August, 23:21 Uhr
Gerald Bast
Musikalisch Grandios
Ich fand den Holländer heute Abend musikalisch Grandios. Nichts gegen Lundgren, aber die Wucht eines Michael Volle ist schon eine tolles Erlebnis. Auch Elisabeth Teige und - natürlich - Georg Zeppenfeld ernteten zurecht großen Beifall und Bavo- Rufe. Fast den größten Applaus aber heimste die Dirigentin Lyniv ein. Und das zurecht.