Am 23. Dezember dirigiert Patrick Hahn in der Münchner Isarphilharmonie zum ersten Mal das gesamte Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Durch seine Kindheit beim Knabenchor hat das Werk für ihn eine besondere Bedeutung.
Bildquelle: Ingo Höhn
BR-KLASSIK: Das Weihnachtsoratorium beginnt mit fünf Paukenschlägen. Diese Pauke entwickelt ja wirklich eine Sogwirkung. Wie ist es für Sie, wenn Sie vorne am Dirigerpult stehen und der Pauke den Einsatz geben?
Patrick Hahn: Das weiß ich tatsächlich noch nicht. Ich dirigiere das Weihnachtsoratorium zum ersten Mal. Ich habe es im Knabenchor unzählige Male gesungen und immer, wenn dieses Stück begonnen hat, war mir klar: Es ist Weihnachten. Ich kann es gar nicht erwarten, bis ich das zum ersten Mal als Dirigent erleben darf.
BR-KLASSIK: Geht es Ihnen als Zuhörer auch so, dass die Ohren sofort gespitzt sind und die Seele sich auf etwas Besonderes einstellt?
Patrick Hahn: Ja, es ist so ein spezieller und bekannter Start. Ich glaube, sobald dieses Motiv erklingt - und es ist ein denkbar einfaches Motiv -, ist man in einer Gefühlslage, die man gar nicht anders beschreiben kann als eine reine weihnachtliche Freude. Mir geht da immer das Herz auf.
BR-KLASSIK: Taucht so etwas ähnliches, eine Variation oder eine Umkehr dieses Themas, irgendwo im Stück nochmal auf?
Patrick Hahn: Im Grunde ist es solitär, weil die Kantaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten und teilweise auch für unterschiedliche Anlässe entstanden sind. Aber dieses Thema lässt sich allemal im ganzen Oratorium finden. Das liegt auch an der Einfachheit - es sind zwei unterschiedliche Töne in einem Quartabstand. Das erfüllt in fünf Tönen die Funktion einer ganzen Ouvertüre, wie man sie aus Opern kennt - wo sich das Publikum langsam formt und man den Menschen Zeit gibt, um sich einzufinden. Selbstverständlich ist das keine Ouvertüre, aber es hat diesen Charakter von: Jetzt geht es los und dann beginnt dieser feierliche Abend.
BR-KLASSIK: Das ganze Werk dauert zweieinhalb bis drei Stunden. Gehen Sie mit einer besonders feierlichen Stimmung an die Musik heran? Oder ist es für Sie einfach Musik – ungeachtet dessen, für welchen Zweck sie komponiert wurde?
Der österreichische Dirigent Patrick Hahn | Bildquelle: © Peter Purgar Patrick Hahn: Letzteres ist es natürlich nicht. Wobei man sich vor Augen führen muss, dass diese Musik ja teilweise gar nicht für diesen weihnachtlichen Zweck geschrieben wurde. Bach hat sich selbst oft wiederverwertet und seine Musik mit neuen Texten und einer völlig neuen Bedeutung hinterlegt. Aber wenn ich dann wirklich rausgehen darf und dieses Werk starte, wird es für mich schon ein anderes Gefühl sein als beispielsweise bei einem Sinfoniekonzert ohne diese unglaubliche Tradition dahinter. Diese Weihnachtsgeschichte ist bei mir sehr persönlich konnotiert, weil ich sie so oft gesungen habe und viele schöne Erinnerungen aus der Kindheit im Knabenchor damit verbinde. Deshalb werde ich noch eine viel persönlichere, intensivere Bindung zu diesem Werk aufbauen als mit Werken, wo es diese gemeinsame Vergangenheit nicht gibt.
Diese Weihnachtsgeschichte ist bei mir sehr persönlich konnotiert.
BR-KLASSIK: Außer dem "Jauchzet, Frohlocket" - welche Ohrwürrmer gibt es?
Patrick Hahn: Uff. Die Ohrwürmer sind recht vielfältig und rauschen relativ rasch an einem vorbei. In all diesen sechs Kantaten gibt es dermaßen viele Arien und Chöre, die einen Ohrwurmcharakter haben. Für mich ist, abgesehen vom Eingangschor natürlich, diese orchestrale Einleitung etwas ganz Besonderes. Das ist ein Teil, an dem ich immer besonders viel Freude hatte. Dieser Siciliano-langsame Tanz, ist für mich die personifizierte Hirtenmusik..
BR-KLASSIK: Stichwort historische Aufführungspraxis. Wie gehen Sie da ran?
Patrick Hahn: Natürlich wissen wir, dass sich die Instrumente, die wir heute verwenden, von den damaligen Instrumenten unterscheiden. Wie man damit umgeht, ist etwas ganz anderes. Ich finde nicht, dass die Gegebenheit der Uraufführungszeit nachgeahmt werden muss, um ein gutes, valides Endergebnis zu erzeugen. Auch die Instrumente, die wir heute als barocke Instrumente bezeichnen, sind ja in Wahrheit Nachbauten, die auch nicht exakt dem entsprechen, was damals der Fall war. Insofern finde ich es genauso valide, diese Musik mit modernen Instrumenten aufzuführen. Das heißt ja im Umkehrschluss nicht, dass man diese Musik behandelt wie Wagner oder etwas ganz Romantisches oder Modernes. Man muss sich natürlich gut mit den Originalvoraussetzungen auseinandersetzen und wissen, dass es zum Beispiel recht überschaubar besetzt wurde. Man muss aber den heutigen Gegebenheiten auch entsprechen. Wenn die Aufführungen in größeren Konzertsälen stattfinden, muss man die Besetzung natürlich auch von der Größe her anpassen. Ich finde, damit muss man etwas flexibel umgehen und nicht allzu stur einer alten Praxis oder einem Versuch einer Wiederherstellung alter Gegebenheiten nacheifern. Auch das ist faszinierend und wichtig, aber nicht der einzige valide Weg.
BR-KLASSIK: Könnte auch jemand, der überhaupt nicht religiös ist, beim Weihnachtsoratorium ein Gefühl von Erhabenheit und Feierlichkeit empfinden, ohne den christlichen Kontext?
Patrick Hahn: Ich denke, Religiosität ist nicht das wichtigste Attribut, sondern eher eine gewisse Spiritualität. Ich denke, man kann diese Musik und die Botschaft dahinter genauso überzeugend fühlen und sie transportieren, wenn man sich einer anderen religiösen Ausrichtung zugehörig fühlt. Aber eine gewisse Art der Spiritualität, eines unerklärlichen Höheren, das in dieser Musik und ihrer Geschichte liegt, ist schon essenziell, um das zu spüren und zu transportieren. Aber ich glaube da gibt es viele verschiedene Ansatzpunkte, über die man zu dieser überirdischen Kraft der Musik kommen kann.
Es ist wirklich von vorne bis hinten meisterhaft komponiert.
BR-KLASSIK: Es gibt auf jeden Fall eine Dramaturgie in dem Werk. Erfordert eine Stelle eine besondere Aufmerksamkeit von Ihnen, um den Spannungsbogen zu halten?
Patrick Hahn: Das ist tatsächlich schwer rauszugreifen. Ich bin sehr froh, dass wir alle sechs Kantaten machen, weil ich es für wahnsinnig schwer empfinden würde, da eine Auswahl zu treffen. Dieser Gesamtbogen ist so stimmig und so überzeugend, obwohl der Abend dann insgesamt etwas länger wird. Ich glaube, das ist wie bei einer langen Oper. Selbst wenn man fünf Stunden an einer Wagner-Oper herumdoktert, gibt es nicht diese eine Stelle, wo man sagt: Wenn man die jetzt gut meistert und den Sprung schafft, dann ist der Abend gerettet. Es beginnt tatsächlich, so plakativ und dumm das klingt, mit dem ersten Ton und hört mit dem letzten auf. Das Schwere ist, dass es dazwischen nie abfällt und es möglichst keinen Knick in der musikalischen Geschichte gibt. Es gibt in der Musik aber auch keinen Moment, wo man nachhelfen müsste, damit die Spannung nicht abfällt. Es ist wirklich von vorne bis hinten meisterhaft komponiert.
Sendung: "Allegro" am 19. Dezember 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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