Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar initiiert das Jewish Chamber Orchestra Munich in diesem Jahr ein besonderes Projekt: per eLearning sollen Schülerinnen und Schüler das KZ Theresienstadt entdecken können. Im Fokus steht dabei die Musik jüdischer Komponistinnen und Komponisten aus Theresienstadt.
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Auf den Pulten der 11. Klasse liegen iPads. Sie sind das Tor ins Konzentrationslager Theresienstadt. "Arbeit macht Frei" – steht über dem Eingang. Nur ein Klick und man ist drin, um 9:45 Uhr am Morgen. Im Bauch ein wässriger Schulkakao und eine Butterbrezel. Die Schülerinnen und Schüler beugen sich über die Tablets, scheinen hineinzukriechen. "Wenn ich an Holocaust denke, dann denke ich natürlich immer erst mal an die Ermordung der Juden und an die Konzentrationslager", sagt ein Schüler.
Der virtuelle Besuch in Theresienstadt setzt bewusst andere Schwerpunkte – macht das kulturelle, das musikalische Leben der Menschen zum Mittelpunkt. Der Dirigent Daniel Grossmann vom Jüdischen Kammerorchester München hat das Projekt entwickelt: "Ein Thema des Holocausts, das natürlich auch überwältigend und schwierig ist, aber auf der anderen Seite vielleicht trotzdem über die Musik ein Zugang eröffnet, wie man ihn sonst nicht bekommt." Theresienstadt war, im Gegensatz zu Ausschwitz, nie ein Vernichtungslager. Vielmehr eine Ansammlung von Häusern und Baracken, eingezäunt, bewacht, aber unter jüdischer Selbstverwaltung. Adolf Hitler rühmte sich gerne damit, er habe "den Juden eine Stadt geschenkt".
Die neue eLearning-Plattform vom Jewish Chamber Orchestra Munich finden Sie hier.
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Man bekommt das Gefühl: Ich bin grad in dieser Welt drin.
"Musikalische Darbietungen werden von allen Einwohnern gerne besucht. In einem Konzert wird das Werk eines jüdischen Komponisten gezeigt." Eine Wandtafel in einem der virtuellen KZ-Räume zeigt einen Ausschnitt aus Hitlers Propagandafilm. Daneben hängt eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit einem Kinderchor. Ein weiterer Klick und sie singen voller Kraft die Kinderoper Brundibar, von Hans Krasa. 1943 geschrieben und unzählige Male in Theresienstadt aufgeführt.
Hans Krasa (1899-1944), Komponist der Kinderoper "Brundibar" | Bildquelle: picture-alliance Für die Schülerinnen und Schüler vom Nymphenburger Gymnasium eröffnet jedes Tippen auf die Pfeiltasten einen neuen Blick, einen neuen Höreindruck und damit eine neue Perspektive auf das Lagerleben. "Dazu gibt's Fragen passend zum Thema, die man durch die Videos, die Texte und durch das Anschauen der Bilder beantworten kann", erklärt eine Schülerin. Es gibt drei Räume zu ganz unterschiedlichen Themen. Optisch ist das ganze sehr authentisch aufbereitet, findet eine andere Schülerin: "Die Räume sind so gestaltet, wie es damals ausgesehen hat, damit man noch mehr das Gefühl kriegt: Ich bin hier grad in dieser Welt drin."
Kahle Ziegelwände, enge Kammern, Säle, Flure, blasse Farbtöne von Hellgrau über Ocker bis Karminrot. Beim Projekt des Jüdischen Kammerorchesters München betritt man mit dem Computer eine Welt, die einstmals brutale Realität war. 60.000 Jüdinnen und Juden lebten hier zeitweise, 4000 starben jeden Monat wegen der hygienischen Bedingungen, an Hunger, vor Erschöpfung, an Krankheiten. Sagt die Statistik.
Zeitzeugin Michaela Vidláková wurde selbst als Kind nach Theresienstadt deportiert. | Bildquelle: picture alliance/dpa/CTK | Ondrej Hajek "Wenn man nur die Zahlen hört, die im Unterricht relevant sind und die auch in Prüfungen abgefragt werden, geht das ganz weg von dem, was man sich selber vorstellen kann", sagt Daniel Grossmann. Er gibt den abstrakten Zahlen, gibt der Anonymität ein Gesicht. Seine Gespräche mit der Überlebenden Michaela Vidlakova kann man sehen und hören. Sie wurde als Kind nach Theresienstadt deportiert. "Damals waren es schon nicht mehr diese Personenzüge, das waren solche Viehwaggons", erinnert sich Michaela Vidláková.
Das lässt auch die Schülerinnen und Schüler heute nicht kalt: "Dass die da dann erzählen, dass die einen gar nichts mehr zu essen bekommen haben oder dass es generell wenig essen gab und die sich dann so zurück erinnern, wie das war, das geht einem schon nahe." Und Michaela Vidláková wiederum erinnert sich, wie sehr ihr die Ungerechtigkeit beim Suppeverteilen nahe ging: "Das war eben eine der traurigsten Sachen, dieses Mitleid mit den alten Menschen mit den traurigen Augen. Sie waren so enttäuscht, wenn sie keine zusätzliche Suppe bekommen hatten."
Dem Komponisten Viktor Ullmann wird in diesem KZ-Besuch ein eigener Raum gewidmet. Denn Ullmann war der produktivste und erfolgreichste Pianist, Dirigent und Komponist in Theresienstadt. Überlebt hat er nicht, seine Musik schon. Das jüdische Kammerorchester hat Ullmanns letztes Werk, "Die Weise von Liebe und Tod" in den Räumen des KZ gespielt. Gefilmt. Und wieder ermöglichen ein paar Klicks, dass man dabei ist: "Ich denke, dass der entscheidende Schritt der sein muss, dass man weg kommt davon... diese Konnotation, dass das Komponisten sind, die ermordet wurden hin zu, dass das Komponisten sind, deren Werke man unbedingt aufführen sollte."
Das sind Komponisten, deren Werke man unbedingt aufführen sollte.
Daniel Grossmann setzt sich zusammen mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich für die Musik jüdischer Komponistinnen und Komponisten ein. | Bildquelle: Thomas Dashuber Für die Schülerinnen und Schüler sind die Komponisten Viktor Ullmann, Hans Krasa, Gideon Klein und die Zeitzeugin Michaela Vidlakova mit diesem Besuch in Theresienstadt zu Bekannten geworden. So bekannt, dass sie sich aus der anonymen Masse von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden hervorheben. "Dadurch wird es persönlicher", stellen die Schülerinnen und Schüler fest. Sie seien heute näher an das Thema rangekommen: "Dadurch wird das Interesse viel mehr geweckt, dass wir uns ausserhalb der Schule damit beschäftigen." Und vor allem habe sich der Fokus auch ein wenig verschoben: "Man bekommt eine andere Idee mit, was in der Zeit passiert ist, dass eben auch Musik geschrieben wurde. Das mitzubekommen, ist superschön."
Sendung: "Allegro" am 27. Januar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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