Kurz vor seinem 70. Geburtstag wird Sir Simon Rattle mit dem Ernst von Siemens Musikpreis für sein Lebenswerk geehrt. Im Interview erinnert er sich an seine außergewöhnlichen Anfänge: Ein Kind, das nächtelang vorm Spiegel Shakespeares Richard III. spielt. Ein Teenager, der für Barockmusik durch LKW-Fahrer und Drucker begeistert wird. Und eine autistische Schwester, die dem kleinen Simon Schönberg-Partituren bringt.
Bildquelle: Astrid Ackermann
BR-KLASSIK: Herr Rattle, was bedeutet Ihnen der Siemens-Musikpreis?
Simon Rattle: Ich bin normalerweise schwindelfrei. Aber als ich die Liste mit den Namen der früheren Gewinner sah, hatte ich heftige Schwindelgefühle. Ein großer Name steht da neben dem anderen. Ein Teil von mir denkt: Das kann gar nicht wahr sein! Aber es ist einfach großartig. Der Preis ist extrem großzügig. Damit kann ich in München eine wichtige Neuerung initiieren: Das BRSO bekommt ein Originalklang-Ensemble, eingebettet in ein wunderbares Orchester. An manchen Opernhäusern wird das seit einigen Jahren gepflegt, aber bei modernen Symphonieorchestern spielt das bisher eigentlich keine Rolle. Das Preisgeld werde ich dafür verwenden, um das Ganze ins Laufen zu bringen. Es ist wunderbar, dass ich damit auch meinen 70. Geburtstag feiern kann.
Ernst von Siemens Musikpreis für Simon Rattle: Ehrung fürs Lebenswerk
BR-KLASSIK: Der Preis gilt Ihrem Lebenswerk. Schauen wir auf die Anfänge: Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, die mit Musik zu tun hat?
Simon Rattle beim Trommeln als Kind. | Bildquelle: Simon Rattle privat Simon Rattle: Da kommen mir Trommeln in den Sinn. Ich erinnere mich gut an ein ganz frühes Weihnachtsfest. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Das schönste Geschenk war ein kleines Schlagzeug. Mindestens eine der Trommeln war schon nach zwei Wochen kaputt. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie ich auf Töpfen und Pfannen mit Holzlöffeln spiele. Meinen Vater, wie er am Klavier sitzt und immer wieder dieselben fünf Jazz-Standards spielt. Und so viele Platten! Da gab es den modernen Plattenspieler mit 33 Umdrehungen. Und auch so ein altes 78er-Grammophon mit diesem großen Schalltrichter. Das alles schwirrt durch mein chaotisches Hirn.tDer Vater spielte in einer Band, die Mutter hatte einen Plattenladen
BR-KLASSIK: Ihr Vater war Marineoffizier. Wie hat er Sie geprägt?
Simon Rattle: Das war nur während des Kriegs. Sein eigentlicher Beruf war Kaufmann, Import-Export mit Fernost. Mehrere Monate im Jahr war er weg. Tatsächlich war er der erste in Großbritannien, der chinesische Violinen ins Land brachte und verkaufte. Ich erinnere mich, wie er sagte: "Wunderbar, wir kaufen sie für 30 Schilling inklusive Bogen und Kasten und können sie für fünf Pfund verkaufen." Oft habe ich ihn im Warenlager besucht. Das quoll über vor Plastikblumen, jeder wollte damals Plastikblumen. Und Geschenkartikel und lustige Spiele. Und dazwischen die chinesischen Geigen.
BR-KLASSIK: Woher kommt die Liebe zur Musik in Ihrer Familie?
Simon Rattle noch am Anfang seiner Karriere 1983. | Bildquelle: Picture-Alliance / Photoshot Simon Rattle: Mein Vater war Jazzmusiker. Ich glaube, er war wirklich gut, auch wenn ich ihn zu seiner besten Zeit nicht erlebt habe. Mit Mitte 20 spielte er in einer ziemlich berühmten Band in Oxford. Meine Mutter betrieb einen Plattenladen. Dort sind sie sich das erste Mal begegnet. Ein ganzes Jahr lang ging er dort hin. Jeden Tag, den sie offen hatte, kaufte er eine 78er-Platte. Dabei versuchte er, sie zu überreden, dass mit ihm tanzen geht. 378 Schallplatten später sagte er: "Ich war jetzt jeden Tag hier, an dem Sie offen hatten. Werden Sie nun zum Tanzen mitkommen?" Sie antwortete - und das ist ganz meine Mutter: "Nun, mir scheint, das sollte ich wohl." Das ist der Grund, weshalb wir diese unglaubliche Plattensammlung hatten. Darunter wirklich phantastische Aufnahmen! Viel Stokowski mit dem Philadelphia Orchestra, daneben Jack Teagarden, Jeanne Cooper und all die anderen Jazzmusiker von damals.
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BR-KLASSIK: In Ihrem Repertoire als Dirigent stehen Filmmusik und Avantgarde nebeneinander, alte und neue Musik. Diese Offenheit haben Sie von Ihren Eltern?
Simon Rattle dirigiert die Birmingham Philharmoniker 1991 in Helsinki/Finnland. | Bildquelle: picture-alliance / dpa | code hs/Svs-bx-910913 Simon Rattle: Ja, für mich gab es da nie einen großen Unterschied. Ich habe immer gern das Philadelphia Orchestra gehört und genauso gern Burt Bacharachs Arrangements der Songs von Frank Sinatra. Bis heute. Es gibt nur Musik. Und Liverpool war ein besonders musikalischer Ort. Wir wohnten in der Menlove Avenue, wo auch John Lennon aufgewachsen ist. Direkt daneben war die Penny Lane, die in dem berühmten Beatles Song verewigt wurde. Es gab so viele tolle junge Hobby-Musiker! Als Teenager habe ich mindestens alle 14 Tage Barockmusik gespielt – mit einem Oboisten, der Drucker war, und einem Geiger, der als LKW-Fahrer arbeitete. So wurde ich mit diesem Virus infiziert. Musik, Theater, Gedichte lagen in der Luft. Das war auf keine Weise was für eine Elite, einfach völlig normal. Wenn wir ins Pub gingen, dann zum Beispiel ins Philharmonic Pub, das lag gegenüber der Philharmonie. Dort gab es nicht nur die malerischsten viktorianischen Klos, die man sich vorstellen kann, sondern auch Gedichtlesungen. Sowas machte man da halt. Und ich ging überall hin. Ein ziemlich lebendiger Ort.
Ich musste für alles, was ich gemacht habe, hart arbeiten.
BR-KLASSIK: Waren Sie ein Wunderkind?
Simon Rattle: Nein! Mir hat Musik einfach Spaß gemacht, ich war sogar besessen davon, aber absolut kein Wunderkind. Es ist eine schwierige Sache, wenn man eins ist; ich habe welche kennen gelernt. Ich musste für alles, was ich gemacht habe, hart arbeiten.
BR-KLASSIK: Aber ein fleißiges, ein wahnsinnig motiviertes Kind?
Simon Rattle: Genau. Und ein bisschen verrückt natürlich. Ganz sicher fanden mich meine Schulfreunde ziemlich seltsam. Zum Glück bin ich mit zehn in ein Jugendorchester gekommen. Da gab’s genug Leute, die auf ihre Weise ebenfalls seltsam waren. Darin wenigstens haben wir uns verstanden.
BR-KLASSIK: Welche Rolle hat Ihre ältere Schwester gespielt? Sie hat Ihnen ja Partituren mitgebracht …
Simon Rattle: Susan. Ich habe manchmal schon davon erzählt, dass ich eine behinderte Schwester hatte. Denn – aber das haben wir erst viel später erfahren – Susan war autistisch. Sie wurde genau in dem Jahr geboren, in dem das Wort "Autismus" geprägt wurde. Deshalb hatte niemand die leiseste Ahnung, was sie hatte. Als ich das Haus meiner Eltern ausräumte vor einigen Jahren fand ich die Aufzeichnungen ihres Arztes. Es war faszinierend, wie er da schreib: "Nach drei Jahren mit ständigen Untersuchungen weiß ich immer noch nicht, was mit diesem verschlossenen, eigenartigen, aber hochintelligenten kleinen Mädchen eigentlich los ist." Als Autismus zum ersten Mal als Phänomen beschrieben wurde, gab es die Theorie, dass das Kind damit auf eine kalte Beziehung zu den Eltern reagiert. Jeder, der meine Eltern kannte, kann alle möglichen Adjektive für sie finden – aber kalt? Nicht im geringsten! Als ich dann mit Mitte 30 in den Büchern des populären Neurologen Oliver Sacks über Autismus las, sagte ich zu ihnen: Genau das muss es sein, was auch Susan hat! Sie waren völlig geschockt, weil immer noch diese Theorie im Raum stand. Erst nach ihrem Tod ist das alles klar geworden.
BR-KLASSIK: Ihre Schwester hat dann ja als Bibliothekarin gearbeitet ...
Expressiv - Simon Rattle beim Dirigieren 1998. | Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Marion Kalter Simon Rattle: Sie war eine jener hochbegabten Autistinnen. Vielleicht war es sogar hilfreich für ihren Beruf, dass sie die Welt auf diese Weise sah. Denken Sie an Greta Thunberg, die sagt: Autismus ist kein Handicap, es ist eine Superpower. Mir ist klar geworden, dass meine Schwester anders ist, als ich in ihren Raum kam und sah, dass alle ihre Bücher andersherum im Regal standen – mit den Titeln zur Wand. Weil sie von jedem Buch genau wusste, wo es stand. Das war eine Schlüsselszene, um zu begreifen, was Autismus bedeuten kann. Susan war neun Jahre älter als ich und verbrachte gern Zeit mit mir. Sie setzte einfach voraus, dass ich mich für dieselben Sachen interessieren würde wie sie. Leider habe ich nicht mehr die illustrierte Geschichte der Folter, eines der Bücher, das sie am liebsten mit ihrem fünfjährigen kleinen Bruder las. Aber was mich mein Leben lang begleitet, ist das, was sie damals aus der Musikbibliothek mit nach Hause brachte. Sie war fest davon überzeugt, dass sich der sieben- oder achtjährige Simon selbstverständlich für die Partitur von Schönbergs Orchesterstücken interessieren würde. Und tatsächlich – ich begann das zu lesen! Und ihr ungewöhnlicher Geschmack wurde zum Paten meiner eigenen Vorlieben.
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BR-KLASSIK: Haben Sie irgendwann bewusst den Beschluss gefasst, Musiker zu werden? Oder war das schon immer klar?
Simon Rattle: Es gab da eine Busfahrer-Phase, an die ich mich erinnern kann. Das hatte mit diesen riesigen schwarzen Rädern zu tun. Meine Eltern sagen, ich hätte damals jedes Auto an seiner Radkappe erkannt, weil das genau meine Höhe war. Was ein bisschen lustig ist, weil ich immer noch nicht fahren kann.
BR-KLASSIK: Wirklich? Sie haben keinen Führerschein?
Simon Rattle: Absolut nicht. Und mittlerweile ist es eher unwahrscheinlich, dass ich je einen haben werde. Aber noch mal zu Ihrer Frage, wann ich den Beschluss gefasst habe, Musiker zu werden: Irgendwann gab es den Punkt, wo es offensichtlich war, dass es die Musik sein musste. Ganz genau erinnere ich mich an den Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ein Dirigent sein will. Das war mit elf oder zwölf in einer Aufführung von Mahlers Zweiter. Diese Erfahrung hat mein Leben verändert. Ich wollte unbedingt in der Mitte von all dem stehen. Ich erinnere mich an jede Einzelheit, an den Platz, an dem ich saß, wie die einzelnen Spieler aussahen – ganz einfach, weil ich in so einer geradezu lächerlichen Weise emotional erregt war. Es war, als hätte man meine Eingeweide aus mir herausgezogen und durch etwas ersetzt. Damit war der unheilbare Virus in meinen Adern. Das ist die Kraft der Musik.
BR-KLASSIK: Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht Busfahrer oder Dirigent geworden wären?
Simon Rattle: Auch wenn ich wohl ein eher unerzogener Schlagzeuger geworden wäre, hätte ich damit mein Geld verdienen können und es hätte mir wohl Spaß gemacht. Ich glaube nicht, dass ich etwas anderes hätte werden können als Musiker, aber ich hätte es geliebt, Schauspieler zu sein. Ich war eine Zeit lang geradezu besessen. Da war Lawrence Olivier. Er konnte sich in alles verwandeln, aber ganz besonders gut war er als Richard III. Ich habe mir vorgestellt, so etwas auch zu machen. Als Schauspieler wäre ich "a dreadful ham" gewesen, einer, der alles übertreibt.
BR-KLASSIK: Wieviel vom Schauspielerberuf steckt im Beruf des Dirigenten?
Simon Rattle: Oh, ziemlich viel. Aber man ist nicht nur Schauspieler. Es ist Pantomime, Tanz. Ich erinnere mich, wie Karajan mir erzählte, dass ihn die Gebärdensprache so absolut fasziniert. Diese Vorstellung, dass es eine Sprache gibt, die man in der Luft macht, war für ihn so inspirierend und positiv! Ich hatte nicht erwartet, dass Karajan davon mit so viel Leidenschaft und Freude sprechen würde.
BR-KLASSIK: Haben Sie mal vor dem Spiegel geübt? Oder als Kind zu Schallplatten dirigiert?
Simon Rattle bekommt 1996 in Hamburg den Shakespeare-Preis der Alfred Toepfer Stiftung für die Pflege des europäischen Kulturerbes. | Bildquelle: picture-alliance / dpa | Carsten Rehder Simon Rattle: Seltsam, aber als Kind habe ich viel öfter vor dem Spiegel so getan, als wäre ich Schauspieler. Ganze Nächte habe ich vor dem Spiegel Richard III. gespielt. Meine Eltern beobachteten mich durch einen Riss in der Tür. Sie mussten so viel lachen, dass ich sie bemerkte. Vor einem Spiegel zu dirigieren, schien mir dagegen keinerlei Sinn zu haben. Es war doch völlig klar, dass es beim Dirigieren einzig und allein darum geht, was es bei anderen Leuten auslöst. Vielleicht wäre ich ein eleganterer Dirigent geworden, wenn ich mir mehr Gedanken gemacht hätte, wie es aussieht. Für mich war der Dirigierstab so etwas wie der Geigenbogen oder der Trommelschlägel – etwas, womit man unterschiedliche Klänge hervorbringt. Ohne ein Gegenüber ging das nicht. Es gibt diesen wunderbaren Spruch von Woody Allen in dem Film "Die letzte Nacht des Boris Gruschenko", wo er sagt: "Ich bin einer der großartigsten Liebhaber der Welt, aber meistens übe ich allein." Das gilt auch fürs Dirigieren: Sie brauchen andere Leute, um das zu machen.
BR-KLASSIK: Wann haben Sie zum ersten Mal vor einem Orchester gestanden?
Simon Rattle: Es gab da ein Kinderorchester. Ich erinnere mich, dass sie einen Dirigierstab gefunden hatten, der auch zum Umrühren von Farbe benutzt worden war. Er war recht bunt. Das und das Erlebnis mit Mahlers Zweiter brachte mich dazu, ein eigenes Orchester zusammenzutrommeln, bestehend aus Schulfreunden und Kollegen aus anderen Amateurorchestern. Es kamen sogar fünf Profis aus dem Philharmonic. Was um aller Welt hat sie dazu gebracht zuzusagen, als ein 15-Jähriger zu ihnen kam und sagte, dass er Schuberts Unvollendete aufführen möchte? Ich weiß es bis heute nicht. Aber sie kamen.
BR-KLASSIK: Jetzt steht Ihr 70. Geburtstag bevor. Wie geht es Ihnen mit dem Älterwerden?
Simon Rattle: Ich sehe mich selbst als Teenager mit Knieproblemen. Ich fühle mich jung, nur ab und zu denke ich mir: Hm, körperlich ist das auch nicht mehr so wie früher. Ich versuche, das Ganze nicht allzu ernst zu nehmen. Man sollte nicht kindisch sein, aber kindlich bleiben. Dann ist alles nicht so schlimm. Ich habe das Glück, einen Beruf zu haben, den ich über alles liebe und der mir wahnsinnig viel Spaß macht. Nicht alle Dirigenten können das von sich behaupten. Ich weiß noch, wie ich einmal Bernard Haitink hinter der Bühne traf, ehe er die Achte von Mahler dirigierte. Ich wünschte ihm viel Spaß – und er explodierte mit den Worten: "Simon, wie kannst du nur so etwas Dummes sagen!" Später haben wir gemeinsam darüber gelacht. Er meinte: "Du hattest ja keine Ahnung, wie angespannt ich war! Absurd, da Spaß zu haben!" Für mich war die Vorstellung genauso absurd, dabei kein Vergnügen zu empfinden. Aber wenigstens konnten wir gemeinsam darüber lachen.
Sendung: "Meine Musik" am 18. Januar 2025 ab 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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