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Neues Buch "The Sound of Rebellion" Wie politisch ist Jazz?

Ist es nur ein Klischee, dass afroamerikanische Musik auch Musik des Widerstands sei? Der deutsche Musikjournalist Peter Kemper ist dieser Frage ausführlich nachgegangen: in einem Buch, dessen Umschlag eine geballte emporgereckte Faust zeigt. "The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz" heißt es.

Bildquelle: Reclame/ Peter Kemper

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Töne der Trauer: Das wehklagende Saxophon John Coltranes in dem Stück "Alabama" - nach dem rassistischen Bomben-Anschlag in Birmingham, Alabama, der 1963 vier afroamerikanische Schülerinnen brutal aus dem Leben riss. Töne der Anklage: "Attica Blues" von der Band des Jazzmusikers Archie Shepp nach der blutigen Niederschlagung eines Gefangenen-Aufstands im Attica State Prison im US-Staat New York 1971, bei der über 40 Menschen starben, Gefangene und Justizbeamte. In dem extrem überfüllten Gefängnis saßen überwiegend "People of color" ein.

Töne des machtlosen Entsetzens: Billie Holidays Song "Strange Fruit” über Lynchjustiz in den amerikanischen Südstaaten, der bis Mitte des 20. Jahrhunderts Tausende Afroamerikaner zum Opfer fielen. "Blut an den Blättern, Blut an der Wurzel" heißt es im Text, der von im lauen Wind baumelnden Körpern spricht. Töne des Stolzes: Miles Davis‘ Huldigung an den großen Boxer Jack Johnson, der 1908 der erste afroamerikanische Weltmeister im Schwergewicht wurde.

Die geballte emporgereckte Faust auf dem Titel

Das sind einige der Beispiele, anhand derer der Musikjournalist Peter Kemper auf rund 700 Seiten die Geschichte des Jazz als einer Musik des Aufbegehrens erzählt. Darum geht es in Kempers "The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz", einem höchst ergiebigen und spannend erzählten Buch, dessen Umschlag eine geballte emporgereckte Faust zeigt. Musik, die auf Gesellschaft reagiert. Die Verbrechen artikuliert. Leid ausdrückt. Identifikation bietet. Kemper hat minuziös recherchiert und setzt Schlaglichter von Trompeter Louis Armstrong, der zu Unrecht oft als mit allen Zähnen strahlender und den Weißen gefälliger "Onkel Tom" geschmäht wurde, bis hin zu aktuellen Figuren afroamerikanischer Selbst-Ermächtigung wie Kendrick Lamar, Kamasi Washington und Moor Mother, Musikerinnen und Musikern, die nicht zuletzt Rap und HipHop mit Jazz verbinden.

Saxophonist Archie Shepp ermuntert "alten weißen Mann"

Mit Gänsehaut und hohem Erkenntnisgewinn liest man "The Sound of Rebellion". Der Autor, Verfasser auch von Büchern über Jimi Hendrix, die Beatles, John Coltrane und auch Helge Schneider, macht am Ende auch seine eigene Rolle zum Thema. Darf er als "alter weißer Mann", Jahrgang 1950 und Deutscher, eigentlich über die amerikanische Black Music und ihre gesellschaftliche Rolle schreiben? Da kann er einen bedeutenden Gewährsmann anführen, den Saxophonisten und afroamerikanischen Intellektuellen Archie Shepp. Der sagt, dass "gerade die Menschen, die sich von außen mit Schwarzer Kultur und ihren Menschen intensiv beschäftigen, neue Sichtweisen, andere Wahrnehmungen ins Spiel bringen".

Von der Harlem Renaissance bis in die Jetzt-Zeit

Saxophonist Pharoah Sanders bei seinem Konzert in Burghausen 1986 | Bildquelle: Gerhard Hübner Saxophonist Pharoah Sanders | Bildquelle: Gerhard Hübner Peter Kemper hat über Jahrzehnte Musiker wie Shepp, Pharoah Sanders oder auch Cecil Taylor interviewt. Erkenntnisse aus diesen Begegnungen und der besondere Blick als studierter Soziologe und Philosoph prägen den weiten Horizont dieses Buchs. Ein ausführliches Gespräch, das Kemper vor wenigen Jahren mit dem Saxophonisten Archie Shepp führte, ist etwa in der Mitte des Buchs sogar in weiten Teilen Wort für Wort nachlesbar. Insgesamt ist Kemper chronologisch vorgegangen. Er beginnt mit der Frühzeit des Jazz in New Orleans und spannt den Bogen bis in die jüngsten Jahre. Ausführliche Analysen und Hintergründe bietet er unter anderem zu Jazz-Orchesterchef Duke Ellington zur Zeit der "Harlem Renaissance" (1920er-Jahre), den er aber über diese Zeit hinaus im Blick behält – etwa anhand der programmatischen Suite "Black, Brown and Beige", mit der Ellington 1943 die bisherige Geschichte der Afroamerikaner musikalisch porträtierte. Aber auch bedeutende andere Gestalten wie Sängerin Billie Holiday, Saxophonist Charlie Parker, Schlagzeuger Art Blakey, das Musiker:innen-Paar Abbey Lincoln und Max Roach, Bassist Charles Mingus, die Saxophonisten Albert Ayler, Ornette Coleman und Pharoah Sanders, das Art Ensemble of Chicago und nicht zuletzt die Instrumentalistin, Sängerin und Komponistin Matana Roberts unterzieht er ausführlichen Betrachtungen, mit denen er den Zugang auch zu manch hochkomplexem Oeuvre – wie etwa denen von Mingus und Roberts – erleichtert.

Die Botschaft von Miles Davis‘ Körperspannung

Archie Shepp - Attica Blues | Bildquelle: impulse! Bildquelle: impulse! Besonders hilfreich ist Peter Kempers sehr genaues Hinhören und Hinschauen. Er rückt Details ins Blickfeld, die auch von guten Kennern der jeweiligen Musik leicht zu übersehen sind. Zum Beispiel erläutert er die Zeichen auf manchen Album-Hüllen frappierend einleuchtend. Etwa auf Seite 361, beim Thema Archie Shepp: "Schon das Album-Cover von ‚Attica Blues‘ formuliert eine politische Botschaft. Während Archie Shepp im Bildvordergrund am Klavier sitzt und an seinen Kompositionen tüftelt, ist hinter ihm an der Wand das ikonische Foto von Tommie Smith und John Carles zu sehen, wie sie während der Siegerehrung bei den Olympischen Spielen 1968 ihre mit schwarzen Lederhandschuhen bewehrten Fäuste zum provokanten Black-Power-Gruß in die Luft recken."

Ähnlich erhellend beschreibt er das Foto von Trompeter Miles Davis auf der Hülle des Albums "Jack Johnson". Da heißt es, auf Seite 404: "Im ärmellosen weißen Shirt und einer Schlaghose aus Wildleder, auf Zehenspitzen, mit spürbarer Körperspannung, einem abschussbereiten Bogen oder einem in die Seile zurückgelehnten Boxer gleichen, bläst er mit geschlossenen Augen und äußerster Kraft in seine Trompete, selbstversunken und total konzentriert. Schon dieses Bild signalisiert, dass es sich bei der Musik der Platte nicht mehr um gepflegte Kunstmusik handelt, sondern um herausfordernde Passion".

Das Saxophon singt ein Begräbnislied

Mit ähnlicher Präzision und sprachlicher Bildhaftigkeit beschreibt Peter Kemper auch musikalische Details. Hier nur ein Beispiel – einige Sätze aus Kempers Beschreibung von John Coltranes Saxophonspiel in dem Stück "Alabama". Da lautet Kempers Text (auf Seite 264): "Er beginnt wie ein Prediger, sein Saxophon singt ein sanftes Begräbnislied. McCoy Tyners Moll-Akkorde reagieren darauf wie die Gesänge von Gemeindemitgliedern beim Gottesdienst. Nach eineinhalb Minuten entsteht eine Pause, wie ein tiefes Ausatmen in einem absteigenden Arpeggio, ein Moment der Versammlung all der aufgewühlten Emotionen und Gedanken." Davon ausgehend, teilt der Autor den Lesenden noch sehr viel mehr Aufschlussreiches über dieses Musikstück mit.

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JOHN  COLTRANE   Alabama | Bildquelle: roger b (via YouTube)

JOHN COLTRANE Alabama

Armstrong sagt: Die Regierung kann zur Hölle fahren

"The Sound of Rebellion" ist auch ein sinnliches Musikbuch geworden, da Kemper immer konkret auf Musikstücke und das Leben ihrer Urheber eingeht – und das Ohr für ganz kleine Details schärfen kann. Eines davon betrifft Louis Armstrong, der in frühen Aufnahmen seiner Anfangsnummer vieler seiner Konzerte ("When it’s Sleepy Time Down South") noch das abfällige Wort "darkies" für Afroamerikaner verwendete – und es später änderte (laut Kemper in "people", ich fand nur Aufnahmen, in denen er an dieser Stelle von "folks" singt).

Louis Armstrong | Bildquelle: picture-alliance/dpa Louis Armstrong | Bildquelle: picture-alliance/dpa Derselbe Armstrong beklagte 1957 – nachdem afroamerikanische Kinder in Little Rock, Arkansas, daran gehindert worden waren, die dortige Central High School zu betreten - in einem Interview mit einem jungen Mitarbeiter einer Zeitung in North Dakota, dass in den USA "ein Schwarzer kein Heimatland mehr hat". Armstrong beließ es dabei nicht. Er setzte unter anderem noch hinzu: "So, wie sie meine Leute im Süden behandeln – die Regierung kann von mir aus zur Hölle fahren." So redet kein harmlos lächelnder "Onkel Tom" des Jazz.

Ein Jazzbuch, das entschieden die Sinne schärft

Durch Peter Kempers Buch sieht man viele Musikerinnen und Musiker in neuem Licht und hört die Musik mit geschärften Sinnen. "The Sound of Rebellion" wirft ein sehr klares und zugleich sehr differenziertes Licht auf wichtige Aspekte in der Geschichte des Jazz. Und es geht in reflektierenden Kapiteln auch mit fein schattierten Gedanken auf schwer zu beantwortende Fragen ein – wie die, ob auch reine Instrumentalmusik wirklich politische Botschaften transportieren kann. Dieses Musikbuch, eines der inhaltsstärksten und packendsten Jazzbücher seit Jahren, ist unbedingt lesenswert.

Das Buch

Peter Kemper: "The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz"
Reclam, 752 Seiten, 38 Euro

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