Mahlers unvollendete 10. Symphonie als Experiment der Vielfalt: Das Berliner Trickster Orchestra vereint Instrumente, Musiker*innen und Klänge aus Europa und ganz Asien. Jetzt bietet das Orchester beim detect classic festival in Mecklenburg-Vorpommern auf Schloss Bröllin einen völlig neuen Zugang zu Mahler. BR-KlASSIK hat mit den Künstlerinnen gesprochen.
Bildquelle: Silke Weinsheimer
Transkulturelle Neuinterpretation der 10. Symphonie von Mahler – das klingt zunächst irritierend, ja sogar sperrig und verkopft. Eine Erklärung ist nötig, und die ist verständlicher, als gedacht: "Wir leben in einer sehr vielfältigen Gesellschaft", so eine der beiden Leiter*innen des Trickster Orchestras, Cymin Samawatie im Interview mit BR-KLASSIK. "Es leben sehr viele unterschiedlichen Menschen in den Städten, und es geht darum, dass man diese Vielfalt auch in der Musik hört und sieht." Nicht die Noten des Adagios der Symphonie werden also neu interpretiert, vielmehr geht es um die Suche eines neuen, vielfältigen Klanges. Ein Klang, der vielleicht ungewohnt ist, aber eben auch bereichernd und inspirierend.
Das Trickster Orchestra besteht aus Instrumenten und Musiker*innen ganz verschiedener Kulturen und Traditionen. | Bildquelle: Lena Ganssmann "Wie hätte Mahler es zu Ende geschrieben? Wie hätte Mahler komponiert oder orchestriert, wenn er in unserer heutigen Zeit gelebt hätte?" Auch das sind Fragen, die sich Cymin Samawatie und Ketan Bhatti, die beiden Leiter*innen des Trickster Orchestras, bei diesem Projekt gestellt haben. "Wir haben Mahlers Adagio ein bisschen 'vertrickstert'", lacht Samawatie. "Vertrickstert" heißt: Zu der jungen norddeutschen philharmonie kommen neun Musikerinnen und Musiker des Trickster Orchestras dazu. Auf die klassische Besetzung der philharmonie treffen so Instrumente aus aller Welt. Instrumente, die sonst nie in einem klassischen Orchester zu finden wären: etwa die chinesische Sheng oder die arabische Nay.
Dieses neu zusammengewürfelte Orchester begnügt sich bei Mahlers unvollendeter Symphonie aber nicht mit leichten klanglichen Veränderungen. Vielmehr werden einzelne Passagen herausgenommen und mit anderen Werken vermischt: mit Alma Mahlers "Bei dir ist es traut" zum Beispiel, oder mit Gustav Mahlers "Das Lied von der Erde". Alles leicht "vertrickstert", denn Ketan Bhatti und Cymin Samawatie nehmen nicht etwa Mahlers Text, sondern das dem Text ursprünglich zugrundeliegende chinesische Gedicht. Manches ist dabei auskomponiert, manches wird aber auch improvisiert. "Man soll sich etwas ausdenken und dabei vielleicht sogar auch mal an Mahler denken. Wie hätte er improvisiert?", so Samawatie. Doch das ist gar nicht so einfach. "Wie kriegt man es hin, mit 50 Musiker*innen zu improvisieren, sodass die Improvisation nicht beliebig klingt, sinnhaft ist und das Werk ergänzt?"
Das musikalische Arbeiten sei dadurch ein völlig anderes, erklärt sie. "Als Dirigentin bin ich auch darauf angewiesen und wünsche es mir auch, dass die Musiker*innen mitdenken und mitmachen und dann auch mal sagen: 'Hier, diese rhythmische Passage sitzt eins a bei den Trompeten, aber für die Hörner ist sie eine große Herausforderung.'" Dieses gemeinsame Arbeiten und Entwickeln des Werkes, das ist es, was für Cymin Samawatie dieses Projekt ausmacht. "Es geht darum, die Kommunikation zu finden, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu bereichern und dann etwas Größeres und Spannendes gemeinsam zu gestalten." Die junge norddeutsche philharmonie sei dafür der ideale Partner. "Ich finde es schön, dass da eine besondere Offenheit da ist, die nicht immer in der klassischen Welt zu finden ist." Eine Offenheit, die zu einer ganz eigenen Interpretation von Mahlers Zehnter Symphonie führt – fern von Hierarchien oder Vorurteilen, nah an Emotionen und nah an der Vielfalt der Menschen.
Sendung: "Leporello" am 29. Juli 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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