Das Miterleben einer der großen Passionen Johann Sebastian Bachs ist vielerorts zum jährlich wiederkehrenden Ritual geworden, ähnlich dem Besuch der Christmette an Heiligabend. Und wenn es von dem Leipziger Thomaskantor Bach heißt, er sei "der fünfte Evangelist", so geht dies maßgeblich auf seine beiden Passionen zurück: Die Johannes- und die Matthäuspassion. Zwei Werke, die Bachs Zeitgenossen geradezu schockiert haben dürften. Entdecken Sie mit unserem Redakteur für Geistliche Musik wichtige Stationen der Passionsmusik.
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Streng genommen gilt der Vortrag der Leidensgeschichte Jesu Christi, der Passion (vom griechischen 'πάσχειν - paschein' für "leiden", "durchstehen", "erleben", "erdulden") in die Karwoche, früher auch "Stille Woche" genannt. Sie beginnt mit dem Palmsonntag und endet mit der Auferstehungsfeier in der Nacht zum Ostersonntag. Dabei sind der Gründonnerstag und der Karfreitag die beiden wichtigsten Tage: An ersterem gedenken die christlichen Kirchen des letzten Abendmahls Jesu im Kreise der zwölf Apostel, gefolgt vom Karfreitag als Tag des Leidens und der Kreuzigung Jesu. Es hat sich aber inzwischen eingebürgert, dass während der gesamten vierzigtägigen Fasten- bzw. Passionszeit entsprechende Musik in den Kirchen und Konzerthäusern zur Aufführung kommt.
Faksimile von Johann Sebastian Bachs "Matthäus-Passion" | Bildquelle: picture alliance/akg-images Zu Bachs Zeit als Thomaskantor war dies allerdings anders: Da gab es während der Passionszeit keinerlei "Figuralmusik", also keine kunstvoll verzierte, mehrstimmige Musik in den Kirchen. Deshalb sind für die entsprechenden Sonntage auch keine Bach-Kantaten überliefert. Umso frappierender muss der Eindruck seiner Passionen auf Klerus und Gemeinde gewesen sein. Denn was Bach in der "Johannes-Passion" (1724) und später in der doppelchörig angelegten und längeren "Matthäus-Passion" (1727) an kontrapunktischen und konzertanten Finessen zu Gehör bringt, muss auf seine Zeitgenossen geradezu verstörend gewirkt haben. Zwar knüpft Bach an ältere Passionsvertonungen an, wie etwa die seines Amtsvorgängers Thomas Selle oder an Barthold Heinrich Brockes' Textvorlage "Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus", aber der Erlebnischarakter und die Dramatik seiner Musik übersteigen alles bis dahin Gehörte. Der Chor bzw. die beiden Chöre stehen dabei stellvertretend für die Gemeinde und deren Teilnahme am Geschehen.
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"Lass ihn kreuzigen" aus J. S. Bach "Matthäus-Passion" | Ian Bostridge, Evangelist; Dietrich Henschel, Pilatus; Collegium Vocale, Philippe Herreweghe
Besonders plastisch kommt dies in den sogenannten "Turbae" (von lat. "Schar", "Volkshaufen") zum Ausdruck. Wenn etwa während des Gerichtsprozesses die aufgebrachte Menge Pontius Pilatus auffordert "Lass ihn kreuzigen". Oder kurz nach der Gefangennahme Jesu, wenn beide Chöre in einer der besonders dramatischen Passagen skandieren "Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?". In starkem Kontrast hierzu stehen die verschiedenen Arien, allen voran die Altarie "Erbarme Dich, mein Gott", die zu einer der berühmtesten Passagen der Matthäuspassion wurde.
In Sachen Dramatik ist die Johannespassion sogar noch etwas direkter. Denn bei ihr stehen die aufwühlenden Volksszenen noch stärker im Zentrum: Turbae wie "Weg, weg mit dem" oder "Kreuzige, kreuzige", in denen sich der Volkszorn beinahe ungebremst musikalisch Bahn bricht.
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"Kreuzige, Kreuzige" aus J. S. Bach "Johannes-Passion" | The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists: John Eliot Gardiner
In seinen zwei großen Passionen offenbart Bach, dieser Meister des Kontrapunkts und der gelehrten Polyphonie, seine emotionale Seite, gepaart mit dem tiefen Gottvertrauen des protestantischen Christen. Sucht man nach einem entsprechenden "katholischen" Gegenstück, so fällt einem vor allem das "Stabat Mater" von Giovanni Battista Pergolesi ein. Beides, sowohl die Passionsmusiken wie die Vertonungen des "Stabat Mater", gehen auf eine lange Tradition zurück. Eine Tradition, die von der Gewissheit getragen ist, dass Musik – stärker als jede Wortverkündigung - die Gemüter erreicht und fähig ist, Mitgefühl zu erzeugen. Nicht nur bei regelmäßigen Kirchgängern.
Giovanni Battista Pergolesis "Stabat Mater" in einer Produktion des Labels Alpha: Hier erklingt Pergolesis berühmte Komposition im unmittelbaren Kontext zu bodenständig-zeitgenössischer Prozessionsmusik, wie sie seit dem frühen 17. Jahrhunderts in Neapel zur Tradition der Karwoche gehört. Interpreten sind die Sängerinnen und Sänger vom Zentrum für Barockmusik Versailles unter der Leitung von Olivier Schneebeli und Vincent Dumestre. (Label: Alpha 009 )
Die von BR-KLASSIK koproduzierte Neueinspielung des Passionsoratoriums "Das Sühnopfer des Neuen Bundes" von Carl Loewe mit den Arcis-Vocalisten und dem Barockorchester L’Arpa Festante unter Leitung von Thomas Gropper. Diese Produktion von 2018 offenbart eine wenig bekannte Seite des Liedkomponisten Carl Loewe und war u.a. nominiert für den Opus Klassik 2019 (Label: Oehms Classis 1706)
Während Bachs Passionen seit der Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 lange Zeit mit großbesetzten Chören und Orchestern aufgeführt wurden, geprägt von entsprechend pathetischen Tempo-Vorstellungen, hat die historische Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten für ein Umdenken gesorgt. Klein besetzte Chöre und Orchester bis hin zu Extrem-Varianten mit Solistenensemble anstelle der Chöre sind der Versuch, der musikalischen Realität zur Bachzeit möglichst nahe zu kommen. Dazu gehören auch deutlich zügigere Tempi und die Konzentration auf die Gesetzmäßigkeiten barocker Rhetorik. Zu hören etwa in der Neuproduktion der Matthäuspassion mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks und Concerto Köln unter der Leitung von Peter Dijkstra.
In vielen katholischen Kirchen verstummen mit der Einsetzung der Eucharistie am Gründonnerstag Glocken und Orgelspiel. Und bis zur Feier der Osternacht werden nur Wortgottesdienste abgehalten. Denn, so die Begründung, die Kartage als Tage der Trauer und des Mitvollzugs der Passion Jesu erlauben keinerlei musikalische Prachtenfaltung. Allerdings gibt es heute auch Gemeinden, in denen die Orgel an den drei vorösterlichen Tagen nicht kategorisch schweigt. In den meisten Bundesländern herrscht heute spätestens vom Abend des Gründonnerstag bis einschließlich Karsamstag als dem "Tag der Grabesruhe" Tanzverbot.
Von einem weit verbreiteten Missverständnis ist die Aufführung von "Requiem"-Vertonungen in der Passionszeit begleitet. Denn ein Requiem, also die Feier der Totenmesse, ist dem Gedenken konkreter verstorbener Menschen gewidmet, während es in der Passionszeit um den Kreuzestod Jesu geht. Allenfalls wird dieser Kreuzestod im Text des Requiems thematisiert, wenn es dort in der deutschen Übersetzung heißt "Mir zum Heil am Kreuz gehangen / mög‘ dies Mühn zum Ziel gelangen".
"tenebrae" (von lat. Dunkelheit, Finsternis) sind nach römisch-katholischem Ritus spezielle Zeremonien für Matutin und Laudes (die ersten beiden Stunden des Stundengebetes) an den drei vorösterlichen Tagen Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag. Leçons de ténèbres oder Tenebrae-Responsorien haben eine lange musikalische Tradition von Orlando di Lasso über Gesualdo, Charpentier, Couperin oder Zelenka bis in die Moderne.
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Miserere mei, Deus - Allegri - Tenebrae
Einige dieser Werke sind auch auf BR-KLASSIK am Gründonnerstag und an Karfreitag zu hören. Unter anderem Wolfgang Rihms für das Bach-Jahr 2000 entstandes Passionswerk "Deus Passus" oder Salvatore Sciarrinos "Reponsorio delle tenebrae".
"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" ist das vielleicht berühmteste der letzten Worte Jesu am Kreuz, überliefert nach dem Lukas-Evangelium. Vom Evangelisten Markus wiederum ist überliefert "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Zahlreiche Komponisten haben diese Worte vertont. Am bekanntesten dürften "Die sieben letzten Worte" von Joseph Haydn sein, der sie gleich in mehreren Fassungen hinterlassen hat. Ausschnitte daraus sind am Karfreitag um 08:05 Uhr zu hören.