Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet. Hier ist die 36. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber". Eine Sendung von BR-KLASSIK im ARD Radiofestival Jazz.
Bildquelle: enja/yellowbirds
"Hören wir Gutes und reden darüber, Vol. 36".
In dieser Sendung des ARD Radiofestival Jazz haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum sechsunddreißigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.
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Auf verschlungenen Wegen kommt manchmal das Repertoire einer Band zustande. Bei Aufräumarbeiten nach einer Überschwemmung fand der Saxophonist Benjamin Weidekamp ein Liederbuch wieder, das sein Vater einst geschenkt bekommen hatte: Es war ein Schul-Liederbuch aus der DDR, "Frisch auf singt all ihr Musici". Er began, Stücke daraus zu spielen, unter anderem das berühmte, 1933 von Häftlingen eines Konzentrationslagers geschriebene Lied "Die Moorsoldaten". Das gab den Anstoß, mit seinen Band-Kollegen eine ganze Reihe von Liedern aus Widerstandsbewegungen zusammenzustellen. Das Ergebnis ist dieses Album, “ERNTE”. Benjamin Weidekamp (Altsaxophon und Klarinette), Uli Kempendorf (Tenorsaxophon und Klarinette), Evi Filippou (Vibraphon), Kaspar von Grünigen (Kontrabass) und David Meier (Schlagzeug) spielen lustvoll, klanglich abwechslungsreich und mit viel Feinsinn insgesamt acht zum Teil wieder beklemmend aktuell gewordene Stücke. Darunter etwa "Venham mais cinco" von 1974, ein Call-to-Action-Lied der portugiesischen Nelkenrevolution, geschrieben von dem Sänger und Komponisten Zeca Afonso. Oder auch: einer der "Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen" des argentinisch-deutschen Komponisten Mauricio Kagel, komponiert zur Zeit der Militärdiktatur und der in Argentinien ausgetragenen Fußball-WM. "Die Moorsoldaten", deren Melodie hier auf zwei Klarinetten gespielt wird in einer bluesig-schwermütigen Interpretation, tauchen auf dem Album ebenfalls auf. Musikalisch besonders spannend ist die Instrumentalversion des Songs "Dem Morgenrot entgegen", einer Hymne der deutschen Arbeiterjugendbewegung mit einem Text von 1907 und einer Melodie, die dem berühmten Tiroler Andreas-Hofer-Lied entlehnt ist: Das Jazzquintett lässt die Musik über einem treibenden Rhythmus optimistisch jubilieren, doch dann zerfasert und zerbröselt der Klang immer mehr – wie durch eine übermächtige Realität zerstobene Hoffnungen –, um sich am Ende wieder zusammenzusetzen und den Rhythmus und die Melodie wiederzufinden. Jazz mit viel Hintersinn, weitem Horizont und improvisatorischer Finesse.
Bildquelle: Justin Time Records Der Hafen ist ein Ort der Sicherheit, endlich an Land nach Tagen, vielleicht Wochen auf See. "Harbour", Hafen, so heißt Christine Jensons aktuelles Album. Die Saxophonistin, Komponistin und Bigband-Chefin kommt aus Sechelt, einem Städtchen an der kanadischen Westküste. Bilder von dem Ort zeigen viel Meer, viel Weite und viel raue Natur. "Harbour" heißt auch eine ihrer Kompositionen und immer erzählt sie mit ihren Stücken Geschichten. In diesem hymnischen, starken und klangfarben-reichen Stück beschreibt Jensen den Hafen auch als einen Ort der Ungewissheit. Gerade Menschen, die über das Meer fliehen müssen, wissen nicht, was in einem Hafen auf sie wartet. Sind sie dort in Sicherheit, ist dort die Reise zu Ende oder beginnt ein neuer beschwerlicher Abschnitt? Christine Jensen, Jahrgang 1970, die mit ihrer Schwester Ingrid zu den herausragenden Jazzerinnen Kanadas zählt, hat ein ungemein feines Fingerspitzengefühl für dieses musikalisch-cineastische Erzählen. Mal wechselt die Stimmung der Musik ganz zart, mal lässt sie die Harmonien heftig aufeinander donnern. Dabei kommen auch coole Grooves und virtuose Soli nicht zu kurz. "Harbour" zeigt, dass die Arrangements und Kompositionen von Christine Jensen zu den aktuell spannendsten und mitreißendsten zählen.
Bildquelle: Concord Records (Universal Music) Milton Nascimento ist ein Superstar der Musica Popular Brasileira. In den sechzig Jahren seiner Karriere begeisterte der 1942 geborene, afro-brasilianische Sänger und Komponist mit seiner hochpoetischen und anspruchsvollen Musik in seiner Heimat ein Massenpublikum. Und in den USA rissen sich Pop- und Jazzgrößen darum, mit ihm zusammen zu spielen. Darunter James Taylor, Paul Simon, Pat Metheny und Wayne Shorter. Auch die 42 Jahre jüngere, afro-amerikanische Sängerin, Bassistin und Komponistin Esperanza Spalding, eine fünffache Grammy-Preisträgerin, erlag früh der Faszination des Musik-Charismatikers. 2010 lud sie ihn zum ersten Mal ein, auf einem ihrer Alben zu singen. Nachdem sich Milton Nascimento 2022 von der Bühne, aber nicht von der Musik verabschiedet hatte, begann sie ihn in Rio de Janeiro zu besuchen. Fünf seiner und fünf ihrer Kompositionen, dazu eine Interpretation des Beatles Klassikers "A day in the life" und von Michael Jacksons "Earth Song" hat Esperanza Spalding dort mit ihm eingesungen. Zurück in New York, bettete sie ihre Duos in den Sound einer größeren Bandbesetzung und komplettierte das Album mit kurzen atmosphärischen Momentaufnahmen und O-Tönen aus ihrem Zusammentreffen mit Milton Nascimento. Damit erschuf sie eine Hommage an den legendären Musiker und ein in seiner unkonventionellen Art absolut beeindruckendes Zeugnis einer gelungenen intergenerationellen Zusammenarbeit.