Vor 100 Jahren, am 25. Februar 1924, machte der Kornettist Muggsy Spanier mit "The Bucktown Five" seine ersten Platten. Es war die Geburt des Chicago-Stils aus dem Geiste des New Orleans Jazz.
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Muggsy Spanier war der vielleicht beste weiße Schüler des großen King Oliver: ein Inividualist, der nicht mit Technik beeindruckte, sondern ganz aus dem Gefühl spielte. Seine Musik geht deshalb auch zu Herzen. Er beschränkte sich auf seinem Kornett meist ökonomisch auf das Mittelregister und war Spezialist des Growlings, also eines knurrend-rauen Klangs, der mit Hilfe eines Dämpfers erzeugt wird. Damit konnte er sein Instrument sprechen, lachen und weinen lassen. Spanier hat an einigen der schönsten Aufnahmen mitgewirkt, die es im Bereich des traditionellen Jazz gibt.
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Muggsy Spanier - Lonesome Road
Muggsy Spanier wurde 1906 in Chicago geboren. Er begann mit Schlagzeug, wechselte mit 14 zum Kornett, das er zunächst in der Schulband spielte und war mit 15 schon Profimusiker. Das war zu jener Zeit und an jenem Ort, da junge weiße Musiker wie Bud Freeman, Pee Wee Russell oder Benny Goodman mit offenem Mund den schwarzen Pionieren lauschten und von ihnen die Kunst des Jazz erlernten. Der blutjunge Muggsy Spanier lernte direkt von den großen Kornettisten Louis Armstrong und Tommy Ladnier, vor allem aber von King Oliver.
Denkt man an das Chicago der 1920er-Jahre, dann assoziiert man meist Gangsterfilme. Zu Recht, wie folgende Erinnerung Muggsy Spaniers an die Auftrittsorte seiner schwarzen Idole zeigt, die er mit 14 besuchte:
"Die Band spielte nach Feierabend im Pekin Café, einer der wüstesten Gangster-Spelunken von Chicago. Jetzt ist da eine Polizeiwache reingekommen. Im Sommer hatte das Pekin immer die Fenster offen. Also verschwand ich fast jeden Abend heimlich von zu Hause, setzte mich vor dem Lokal auf einen Stein und hörte mir die Musik an. Manchmal wurde die Sache drinnen brenzlig, die Musik brach auf einmal ab, und man hörte Schüsse knallen. Ein paar Musikfreunde versuchten, ihre 45er Colts zum Swingen zu bringen. Ehe ich mich versah, rannte ich nach Hause, so schnell mich meine Füße trugen. Aber am nächsten Abend saß ich bestimmt wieder auf demselben Stein. Ich fand, die Musik war es wert, dass man eventuell von einer verirrten Kugel getroffen wurde."
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Muggsy Spanier & His Ragtime Band - Big Butter and Egg Man
"Big Butter And Egg Man" ist ein Stück, das Muggsy Spanier 1939 mit seiner Ragtime Band aufnahm. Dazu gibt es eine aufschlussreiche Schilderung Spaniers aus den 1920er-Jahren, in der ein gewisser Louis Armstrong vorkommt: "Zu den aufregendsten Erinnerungen meines Lebens gehört es, wie Louis mich zum ersten Mal bat – oder besser: mir erlaubte –, einzusteigen und 'Big Butter and Egg Man' zu spielen. Keiner auf der Welt kann es so bringen wie Louis. Das steht fest. Und keiner könnte es besser spielen. Deshalb bin ich so ehrlich zu sagen, dass ich immer versucht habe, die berühmten Breaks von ihm so genau nachzuspielen wie nur möglich. Denn ich habe es so oft von ihm gehört und kenne es so gut."
Die Bescheidenheit Spaniers gegenüber einem Genie wie Armstrong finden wir auch bei anderen weißen Chicagoans, zum Beispiel beim gleichaltrigen Wild Bill Davison, der ebenfalls 1924 seine ersten Aufnahmen machte. Der sagte: "Eine einzige Note so zu setzen, dass sie wie von Louis klingt, genügt, um ein ganzes Leben auszufüllen." Die weißen Nachfolger der großen schwarzen Vorbilder hatten ursprünglich nur vor, deren Musik zu kopieren, und doch schufen sie eigene Spielweisen. Spanier und Davison besaßen ganz unverwechselbare, persönliche Kornett-Stile, mit denen aus den bescheidenen Gefolgsleute einflussreiche Rollenmodelle für Dixieband wurden. Auf ihre Weise hielten sich diese weißen Schüler auch enger ans Alte Testament des Jazz, in dem sie zum Beispiel dem etwas gedeckter klingenden Kornett die Treue hielten, während Armstrong und seine schwarzen Jünger zur Trompete wechselten.
Obwohl die Chicagoans als Kopisten anfingen, besassen sie schon Mitte der 20er-Jahre viel Eigenständigkeit. Man bezeichnet ihre Musik daher nicht einfach nur als Dixieland, sondern hat dafür die Untergattung Chicago-Stil oder Chicago Dixieland geschaffen. Als Hauptkornettist des Chicago-Jazz gilt Bix Beiderbecke. Muggsy Spanier dagegen wird selten mit diesem Stil in Verbindung gebracht. Und doch gelten Vielen die Aufnahmen von Spaniers Bucktown Five vom 25. Februar 1924 als die erste Dokumente dieses Stils.
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Steady Roll Blues
Die Aufnahmen der Bucktown Five entstanden, als Spanier gerade mal 17 (!) Jahre alt war. Die Leistung für einen so jungen Musiker ist enorm. Nicht nur die Soli sind vollkommen, sondern auch die Balance innerhalb der Band besticht. Fast schon so wie anderthalb Jahre später bei den legendären Hot Five von Louis Armstrong, die ebenso besetzt waren: Kornett, Klarinette, Posaune, Klavier und Banjo. War im New Orleans Jazz von Spaniers Idol King Oliver die Kollektivimprovisation das Wichtigste, so steht im Chicago-Stil das Solo im Mittelpunkt. Die Musik des jungen Muggsy Spanier könnte man noch als weißen New Orleans Dixieland bezeichnen, doch viele Züge des Chicago-Stils sind schon voll ausgeprägt. So ist in "Someday Sweetheart" zeitweise nur ein Klaviersolo von Mel Stitzel zu hören, was schon damals in Bandaufnahmen selten war. Marvin Saxbe wechselt währenddessen vom Banjo zur Gitarre, ein Instrument, das im Chicago-Stil auch das Banjo ersetzt. So kommt es nach Stitzels Solo zu einem vom Klavier begleiteten Duo von Saxbes Gitarre und Volly De Faults Klarinette. Gitarrensoli aus so früher Zeit sind selten, und ein solches Duo mittendrin ist ungewöhnlich.
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Someday, Sweetheart
Im kollektiven Gedächtnis blieb Spanier aber nicht wegen solcher Jugendwerke, sondern wegen der Aufnahmen seiner Ragtime Band, die die Vorhut bildeten zu dem erst in den 40er-Jahren mit Vehemenz einsetzenden Comeback des klassischen Kleingruppen-Jazz, der eine Alternative sowohl zum streng arrangierten Bigbandjazz als auch zum modernen Bebop darstellte. Mit einem durchgebrochenen Magengeschwür und Bauchfellentzündung war Spanier 1938 in die Touro Klinik in New Orleans eingeliefert und operiert worden. Die Musikerkollegen gingen davon aus, dass er nie wieder spielen würde. Doch der Kornettist erholte sich, gründete 1939 seine Ragtime Band und hinterließ mit "Relaxin’ At The Touro", dem Hospital seines Alkoholentzugs, ein Denkmal. Ein netter Zug, der später bei Charlie Parker mit "Relaxin’ At Camarillo" und James Moody mit "Last Train From Overbrook" wiederkehrte.
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Relaxin' at the Touro
Dem antikisierenden Bandnamen zum Trotz war die Ragtime Band vorbildlich für "modernen" Dixie. Das Tenorsaxophon, das in New Orleans noch nichts zu vermelden hatte, wurde integriert, die Gitarre ersetzte das Banjo. Diese modernere Besetzung und die Betonung der Solofolge gegenüber Kollektivimprovisation wirkte stilbildend auf zahlreiche Nachfolger. Bemerkenswert im Schaffen von Muggsy Spanier war ein Quartett, das ebensowenig altmodisch spielte: die Bechet-Spanier Big Four des Jahres 1940. Die wenigen Kornettisten und Trompeter, die sich neben dem enormen Sopransaxophon-Solisten Sidney Bechet gleichrangig behaupten konnten, kann man ohnehin an den Fingern einer Hand abzählen. Auch die späten Formationen des 1967 gestorben Kornettisten Muggsy Spanier, etwa die gemeinsamen Bands mit dem Pianisten Earl Hines, spielten Musik von zeitloser Schönheit!
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Sweet Lorraine - Sidney Bechet
29. Februar 2024: Eine Chronik des Jazz (39):
"Frankie and Johnny" - Aufnahmen von Februar und März 1924.
Moderation: Benedikt Schregle.
Manuskript und Auswahl: Marcus A. Woelfle