BR-KLASSIK

Inhalt

John Cages "ORGAN2/ASLSP" 639 Jahre Orgelklänge

Halberstadt, 5. September 2001: Das längste Orgelstück der Welt beginnt. 639 Jahre soll die Aufführung von John Cages "ORGAN2/ASLSP" dauern. Und sie startet in der Sankt-Burchardi-Kirche erstmal mit einer anderthalbjährigen Pause.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Das Kalenderblatt zum Anhören

"ASLSP" steht über der Partitur von John Cage. Vier Notenseiten mit spärlichen, langgezogenen Tönen, keine Hinweise auf Lautstärke oder Registrierung, nur diese seltsame Tempoangabe: "ASLSP" – "As slow as possible". Aber was heißt das, so langsam wie möglich?

Eine halbe Stunde? Viel zu schnell!

Bei der Uraufführung 1987 dehnte Gerd Zacher die vier Notenseiten auf eine halbe Stunde. Immer noch viel zu schnell, finden 1998 die Teilnehmer eines Symposiums rund um die Organisten Hans-Ola Ericsson und Christoph Bossert. So langsam wie möglich, das heiße in letzter Konsequenz: das Stück dauert so lange, wie eine Orgel leben kann. Also Jahrhunderte.

Eine Orgel für John Cage

Man findet heraus: Vor 639 Jahren wurde in Halberstadt eine der ersten Kirchenorgeln der Welt gebaut. 1361 war das, damals gehörte die Burchardi-Kirche zu einem wichtigen Zisterzienserinnenkloster. Später, nach der Säkularisation, war das romanische Gemäuer auch mal Scheune oder Schweinestall. Inzwischen, nach der Wende, hat die Ruine immerhin wieder Fenster und Dach. Und jetzt soll auf Initiative der Symposiums-Teilnehmer wieder eine Orgel einziehen. Eine Orgel, die 639 Jahre lang ein Stück von John Cage spielt.

"Das Rauschen eines weit entfernten Meeres"

Es wird ein echtes Event. Am Vorabend des 5. September 2001 spielen Bossert und Ericsson in einer anderen Halberstädter Kirche eine dreistündige "Kurzfassung" des Stücks, danach gibt es noch eine John-Cage-Performance mit Texten und Tänzern. Und dann, um Mitternacht, ist es so weit. "Der große Augenblick: In die Stille hinein wurde das Gebläse in Bewegung gesetzt", berichtet die FAZ. "Sechs junge Männer brachten, was technisch nicht notwendig gewesen wäre, als Bälgetreter den Wind in Schwingung. Sein Geräusch erinnerte an das Rauschen eines weit entfernten Meeres, so dass in die Andacht sich Urlaubsgefühle schlichen. Nach einer Anstandsfrist brandete Beifall auf. 'Mitten im Stück!' hätte man empört ausrufen mögen."

YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.

639 Jahre: Das längste Orgelstück der Welt ORGAN²/ASLSP | Bildquelle: indeonmagazin (via YouTube)

639 Jahre: Das längste Orgelstück der Welt ORGAN²/ASLSP

Alle paar Jahre ändert sich der Klang

Es wird anderthalb Jahre dauern, bis der erste Ton erklingt. Ein imposantes Instrument ist es noch nicht. Die Königin der Instrumente gleicht eher einem Gerippe. Ein Gestell aus Holz, eine Handvoll magere Pfeifen. Denn klar, für den ersten Akkord werden ja auch nur drei Töne benötigt. Bei einer Aufführungsdauer von 639 Jahren ändert sich der Klang nur alle paar Jahre, dann kommen wieder Pfeifen hinzu. Ein Work in Progress, das Tag und Nacht vor sich hinsäuselt, egal, ob Besucher durch das alte Gemäuer schlendern oder nicht.

Das hat ja eigentlich nur Sinn für den ganz großen Zuhörer da oben.

Die Tickets für den letzten Tag kann man vererben

Dieter Schnebel | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Komponist Dieter Schnebel, ein Freund von John Cage | Bildquelle: picture-alliance/dpa Klingt so die Ewigkeit? Und entspricht das Projekt überhaupt dem Willen des 1992 verstorbenen John Cage? Darüber wird in der Folge heftig diskutiert. Dem Komponisten, Theologen und Cage-Freund Dieter Schnebel jedenfalls gefällt das Projekt, gerade aus spiritueller Sicht:
"Das hat ja eigentlich nur Sinn für den ganz großen Zuhörer da oben, der als einziger dann alles mitkriegt. Ob er ein ästhetisches Vergnügen daran hat, weiß ich nicht. Könnte ich mir aber schon vorstellen."
Der letzte Ton wird übrigens am 4. September 2640 verklingen, einem Samstag. Dafür werden bereits Karten verkauft. Wer Sorge hat, ob er bis dahin durchhält: Die Tickets kann man zum Glück auch vererben.

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 12:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 05. September 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Mehr zum Thema

Neu bei BR-KLASSIK

    AV-Player