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Kurt Masur dirigiert ein historisches Konzert Montagsdemo und Musik

Leipzig, 09. Oktober 1989. Kurt Masur dirigiert ein Konzert des Gewandhausorchesters. Doch es war kein normales Konzert. Im Gegenteil: Der Abend sollte die deutsche Geschichte entscheidend beeinflussen.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Es dauert einige Minuten – der Applaus im Leipziger Gewandhaus will kein Ende nehmen. Hoffnung und Erleichterung liegen in dieser stürmischen Geste des Publikums. Der Tag war, trotz aller Befürchtungen, friedlich verlaufen, und der Kapellmeister des Gewandhauses hat einen großen Anteil daran. Kurt Masur sollte an diesem Abend Richard Strauss dirigieren, "Till Eulenspiegels Lustige Streiche", dazu das Konzert für Trompete, Pauken und Orchester des Komponisten Siegfried Matthus, außerdem die Dritte Symphonie von Johannes Brahms.

Aufruf der "Leipziger Sechs"

Zwei Stunden vor dem Konzert strahlt der Leipziger Stadtfunk – ein System von stadtweiten Lautsprechern – einen Aufruf aus. Geschrieben von den sogenannten Leipziger Sechs: dem Theologen Peter Zimmermann, dem Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie drei Sekretären der SED-Bezirksleitung. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel. Den Appell trug der bekannteste unter ihnen vor – der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur.

Der Appell

Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird.
Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit. Damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach: Kurt Masur

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Andenken an den Maestro  – Leipziger Gespräche mit Kurt Masur (1995) | Bildquelle: Internationales Kurt-Masur-Institut (via YouTube)

Andenken an den Maestro – Leipziger Gespräche mit Kurt Masur (1995)

Flugblätter rufen zur Gewaltlosigkeit auf

ARCHIV - 09.10.1989, Sachsen, Leipzig: Eine Gruppe von Demonstranten geht mit einem Transparent, auf dem «Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!» zu lesen ist, bei der Montagsdemonstration durch die Stadt. (zu dpa «9. Oktober 1989: «Wenn etwas passieren würde, dann in Leipzig»») Foto: -/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Bildquelle: dpa-Bildfunk Demonstration in Leipzig am 09. Oktober 1989 | Bildquelle: dpa-Bildfunk Dieser Aufruf der Leipziger Sechs wird auch im normalen Radio ausgestrahlt, er erreicht nicht nur die Demonstranten, sondern auch die Ordnungskräfte. Nicht nur die Gruppe um Kurt Masur ruft zur Gewaltlosigkeit auf. An diesem Montag kursieren in der Stadt an die 30.000 Flugblätter, die zur Gewaltlosigkeit aufrufen. Seit Wochen hatten die Leipziger Montagsdemonstrationen immer stärkeren Zulauf erhalten, ebenso die Friedensgebete in der Nikolaikirche. Die SED-Bezirksführung weiß, dass auch an diesem 09. Oktober wieder eine solche Montagsdemonstration geplant ist – nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche. Man will "mögliche Provokationen im Keim ersticken" und versetzt 3.000 bewaffnete und 5.000 "gesellschaftliche" Kräfte in Bereitschaft. Zudem besetzen mehrere hundert "treue Genossen" Kirchenbänke in der Nikolaikirche.

70.000 gehen auf die Straße

Aber nicht nur in der Nikolaikirche findet das Friedensgebet wie geplant statt – trotz der Anstrengungen der SED. Auch in drei anderen Gotteshäusern versammeln sich die Menschen, erstmals auch in der Thomaskirche, an Orten also, an denen einst Bach als Kantor gewirkt hatte. Nach den Gebeten gehen die Menschen auf die Straße, 70.000 rufen "Wir sind das Volk" und "Keine Gewalt!"

Es fällt kein Schuss

 Das Archivfoto vom 09.10.1989 zeigt die "Leipziger Sechs" um den damaligen Gewandhauskapellmeister Prof. Kurt Masur (3.v.r.), die am 09. Oktober vor der großen Demonstration in Leipzig einen Aufruf gegen Gewalt über den Leipziger Rundfunk und im Stadtfunk über Straßenlautsprecher verlesen liesen. Auf Initiative von Kurt Masur waren daran die damaligen drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig Dr. Kurt Meyer (r), Dr.Roland Wötzel (4.v.r.), Jochen Pommert (5.v.r.), Pfarrer Peter F. Zimmermann (2.v.r.) und der Kabarettist Bernd-Lutz Lange beteilgt. An der darauffolgenden Demonstration in der Leipziger Innenstadt nahmen rund 70.000 Menschen teil.  | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die "Leipziger Sechs" mit Kurt Masur am 09. Oktober 1989 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Furcht vor einem Blutvergießen ist groß: Die Demonstranten haben Angst vor einer – wie sie es nennen – "chinesische Lösung", ähnlich dem Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens nur wenige Monate zuvor. Denn in Leipzig geht an diesem Montag das Gerücht um, in den Kliniken der Stadt seien Blutkonserven angeliefert worden, die Mediziner stünden bereit, um Schusswunden behandeln zu können. Doch es fällt kein Schuss an diesem Tag, die Polizei greift nicht ein – auch nicht die 1.500 Soldaten der Nationalen Volksarmee, die vor der Stadt auf ihren Einsatz warten. Das Wunder geschieht, es gibt keine Gewalt an diesem Tag, an diesem Abend. Die Friedliche Revolution hat die erste größere Hürde genommen.

Bilder gehen um die Welt

Und die Bilder aus Leipzig gehen um die Welt. Gedreht hat sie der Kameramann Siegbert Schefke – und zwar vom Kirchturm der Reformierten Kirche aus, zusammen mit seinem Kollegen Aram Radomski. Der meinte angesichts der Aufnahmen von 70.000 friedlich demonstrierenden Menschen: "Heute wird sich die Welt verändern. Wenn die Bilder morgen im West-Fernsehen zu sehen sind, dann wird das nicht nur die DDR, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa und die Welt verändern!".

"Ein einziges Fragezeichen"

Sie liefen im West-Fernsehen, und sie veränderten die Welt. Ein West-Journalist schmuggelt die Bilder noch in der Nacht über Berlin in den Westen, am nächsten Tag laufen die Aufnahmen Abends in der ARD. Der Wendepunkt der Wende war erreicht – etwas, das die Menschen auf der Straße, aber auch im Gewandhaus, vielleicht ahnten, aber noch nicht wissen konnten. Kurt Masur sagte später, dieser Abend sei ein "einziges Fragezeichen" gewesen. "Till Eulenspiegel" zu spielen, das sei so gewesen, wie "Lache, Bajazzo" zu singen: "Es gibt nichts Seltsameres", so Masur.

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Beethoven 9. Sinfonie (Masur 2.10.1990) Festakt Deutsche Einheit | Bildquelle: hitzikon (via YouTube)

Beethoven 9. Sinfonie (Masur 2.10.1990) Festakt Deutsche Einheit

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 12:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 09. Oktober 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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