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Nonos "Canto sospeso" wird uraufgeführt Erschütternde Anklage

Köln, 24. Oktober 1956. Luigi Nonos "Il Canto sospeso" wird uraufgeführt. Mit diesem Chorwerk, das auf Abschiedsbriefen europäischer Widerstandskämpfer basiert, setzte der venezianische Komponist ein starkes Zeichen gegen Faschismus, für Menschlichkeit.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Der Klang verstummter Stimmen. Musik, die zur Erinnerung zwingt. Menschen zurückholt ins kollektive Bewusstsein, die ausgelöscht wurden. Der Komponist Luigi Nono, in Venedig geboren, gibt in seinem "Canto sospeso" zehn Widerstandskämpfern ihre Stimme zurück. Zitiert aus den "Letzten Briefen zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand": "Liebe Mama, Papa und Schwesterchen! Heute, am 5.6.42 werden sie uns füsilieren. Ich zittere gar nicht und ich schreibe euch aufrecht auf meinen Füßen stehend." Dies sind die letzten Worte von Eleftherios Kiosses, griechischer Student, aktiv im antifaschistischen Widerstand. 1942 in Athen erschossen. "Alles Weinen ist jetzt zwecklos. In der Hoffnung auf das Leben gehe ich in den Tod", schreibt die Berliner Arbeiterin und Widerstandskämpferin Elli Voigt an ihren Gatten: kurz vor ihrer Enthauptung im Dezember 1944.

Das Publikum der Uraufführung ist erschüttert

Zwölf Jahre später, 1956, erschüttert der "Canto sospeso" bei seiner Uraufführung im WDR das Publikum. Es ist eine Kantate für Sopran, Alt, Tenor und Orchester, in der Luigi Nono moderne Kompositionstechniken verwendet: Der Musik liegen Zahlenreihen zugrunde, die die Tonfolge, Lautstärke oder Tondauer bestimmen. Klingt nach Mathematik, ist aber keine. Ganz im Gegenteil: Der "Canto sospeso" – auf Deutsch "schwebender oder aufgehobener Gesang" – ist hochexpressive Musik. Auch, wenn einige Nono vorwerfen, er habe die Texte so zerlegt, so dass man sie nicht mehr verstehe.

Vernehmbar sind schwebende Seelen

Technisch betrachtet stimmt das. Die Briefe sind auf verschiedene Stimmen aufgeteilt, nur selten ist ein Wort klar verständlich. Aber ist das nicht die adäquate Antwort auf die Realität? Dass diesen Menschen die Stimme genommen wurde? Ihr Lebensgesang erstickt, also aufgehoben wurde? Und sie nur mehr als Seelen schwebend vernehmbar sind? Luigi Nono selbst sagt: "Die Botschaft jener Briefe ist in mein Herz eingegraben wie in die Herzen all jener, die diese Briefe verstehen als Zeugnis von Liebe, bewusster Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben."

"Il Canto sospeso" mit dem BR-Chor bei den Salzburger Festspielen

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Sendung: "Allegro" am 24. Oktober 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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