Ischl, 10. Juli 1896. Gustav Mahler setzt sich aufs Fahrrad und besucht Johannes Brahms in Ischl. Wie es oft so ist, wenn zwei Genies aufeinander treffen: Allzu viel zu sagen haben sich die beiden Komponisten nicht ...
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Das Kalenderblatt zum Anhören
"Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern", meint Gustav Mahler. "Es ist ein knorriger und stämmiger Baum, aber reife süße Früchte!". Fügt er noch hinzu (in seinem Brief an Anna von Mildenburg). Dann schwingt sich Mahler aufs Fahrrad. 22 Kilometer strampelt und schwitzt Mahler durchs Weißenbachtal von Steinbach bis Ischl. Dort verbringt "der knorrige Baum" seinen Sommer. In Steinbach am Attersee wohnt Mahler im "Gasthof zum Höllengebirge".
Der "Alte", für den Mahler aus Goethes "Faust" zitiert, ist NATÜRLICH nicht Mephisto, sondern Johannes Brahms. Einige Male haben sie sich schon getroffen. Mahler ist 36, Brahms 63. Wirklich grün ist Mahler dem Brahms nicht, obwohl sie Spaziergänge unternehmen und sich auch über Zipperleins austauschen. Mahler ist das zu wenig: "Es ist, als ob sich Brahms jede, auch die allergeringste geistige Anstrengung, außer seiner freilich intensiven, schaffenden Tätigkeit, ängstlich fern halten wollte."
Was Mahler richtig auf die Nerven geht, das ist Brahms' Habitus vom "Letzten Mohikaner". Also, dass er ständig dem Jüngeren gegenüber raushängen lässt, er wäre der Letzte, der ein Bewusstsein für die Integrität von Musik habe. Als sie an der Traun entlangspazieren, packt Mahler seinen Kollegen plötzlich am Arm und zeigt auf eine kleine Welle: "Sehen Sie, Herr Doktor, dort fließt die letzte Welle". Brahms versteht die Anspielung. Er knurrt und erwidert: "Das ist ja recht schön, aber es kommt vielleicht auch darauf an, ob sich die Welle ins Meer ergießt oder in einen Sumpf."
Die Frage, warum Mahler den brummigen Brahms überhaupt besucht, ist berechtigt. Steinbach ist eintönig, im reizenden Ischl hingegen wird was geboten, kulturell, kulinarisch und gesellschaftlich. Darauf steht Gustav Mahler gelegentlich! Hinzu kommt für ihn: "Die Freundschaft wird aufrecht erhalten, weil ich dem alten Meister als junger Werdender gerne die schuldige Nachsicht zolle und mich nur von der Seite zeige, von der ich glaube, dass sie ihm angenehm ist."
Vielleicht liegt genau da der Hund begraben. Brahms spürt das Gnädige, das Unehrliche in Mahlers Motivation, ihn zu treffen. Und entsprechend misanthropisch begegnet Brahms diesem "werdenden Meister". Als eingefleischter Dickschädel fällt ihm das sicher nicht schwer. Jedenfalls machen die beiden im Sommer 1896 ihren letzten gemeinsamen Spaziergang. Und sie sind zum letzten Mal in in Steinbach und Ischl. Gustav Mahler überwirft sich mit dem neuen Besitzer der Pension "Zum Höllengebirge" und Johannes Brahms stirbt neun Monate später, im April 1897.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Brahms/Busoni - Ivo Varbanov (2014) 11 Chorale Preludes, Op. 122 (4,5,8,9,10,11)
Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.
Sendung: "Allegro" am 10. Juli 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)