Paris, 06. Mai 1846: Das Publikum ist überwältigt von dem gerade einmal zehn Jahre alten Pianisten, der sich mit einem umfangreichen Programm in der Salle Pleyel vorstellt: Camille Saint-Saëns. Das Kind spielt Mozarts Klavierkonzert KV 450, ein Thema mit Variationen von Händel, eine Toccata von Kalkbrenner, ein Präludium mit Fuge von Bach und als i-Tüpfelchen das 3. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Und wird als "neuer Mozart" gefeiert. Er selber kann sich darüber allerdings nicht recht freuen.
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(Zeichnung: der zehnjährige Camille Saint-Saëns)
Dieses Mammutprogramm an einem Abend zu bewältigen, bedeutet nicht nur eine große technische Herausforderung, sondern auch ein hohes Maß an Konzentration. Beides offenbar ein Kinderspiel im wortwörtlichen Sinne für den 10-jährigen Interpreten Camille Saint-Saëns. Die Zeitung feiert ihn als "neuen Mozart". Man lobt seine "perlenden Läufe, die Leichtigkeit des Anschlags aus dem Handgelenk heraus, den weitgehenden Verzicht auf Effekte mit dem rechten Pedal, seine rhythmische Präzision!" Dabei bekommt Camille erst seit drei Jahren Klavierstunden.
Dass er ein Wunderkind ist, bemerkt seine Mutter schon früh: Mit zweieinhalb Jahren liest er ihr Geschichten vor. Er ist drei Jahre und fünf Monate, als er sein erstes Stück komponiert, im zarten Alter von sechs übersetzt er bereits zum Zeitvertreib lateinische und griechische Texte. Der zarte, sehr nervöse und blasse Junge wird von sämtlichen Gleichaltrigen abgeschottet. Nicht einmal eine normale Schule besucht Saint Säens, wo er wenigstens eine Chance gehabt hätte, auf andere Kinder zu treffen.
Ich habe nie Komplimenten geglaubt.
So umgeben ihn nur seine verbitterte Mutter, seine melancholische Großtante und verschiedene Privatlehrer. Alle fördern zwar seine vielseitigen Talente und lassen ihm im Schoße der Familie sämtliche Freiheiten. Und doch wächst dieser rege Geist, dieser frühreife Knirps quasi in Gefangenschaft auf: Kindliche Freude und kindliches Lachen verkümmern. Seine Kontaktarmut führt zu einem schwach ausgeprägten Selbstbewusstsein und seine empfindsame Seele bleibt obendrein auf der Strecke. Der Komponist erinnert sich: "Meine Mutter hatte furchtbare Angst vor Schmeicheleien und warnte mich von Anfang an vor Falschheit. Ich habe nie Komplimenten geglaubt."
Und so kann der 10-jährige keine Freude über den riesigen Erfolg seines Debüts in der Salle Pleyel empfinden, sondern quittiert den Auftritt mit einer heftigen Fieberattacke.
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Saint Saens - 3 Morceaux, Op.1 - Barcarolle (No.2)
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Sendung: "Allegro" am 6. Mai 2022 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK