Bayreuth, 24. Juli 1956. Der letzte Akkord hallt noch nach, schon bricht im Publikum ein Tumult los, den man den ansonsten so duldsamen Nachkriegs-Wagnerianern nicht zugetraut hätte. Die Premiere der "Meistersinger von Nürnberg" wird ausgebuht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bayreuther Festspiele.
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Dabei hatte alles so hübsch begonnen, im ersten Akt. Regisseur Wieland Wagner hat mit Liebe fürs pittoreske Detail auf der Bühne die Katharinen-Kirche von Nürnberg nachgebildet. Also den Ort, an dem sich die Original-Meistersinger bis ins 18. Jahrhundert trafen, der aber im Krieg durch Bomben der Alliierten zerstört wurde.
Alles prima also mit der heilen Welt Nürnberg. Entsprechend gibt es in der Pause anerkennendes Gegurre bei Bier und Wurst für diesen Regiekniff. Als sich allerdings der Vorhang zum zweiten Akt hebt, stockt dem Publikum der Bratwurstatem. Keine schnuckelige Gasse, kein Schusterladen von Hans Sachs, kein Haus von Veit Pogner und kein einziger Baum. Dabei hat Richard Wagner das doch explizit gewünscht. Stattdessen: eine Riesenbohne auf dem Bühnenboden aus Kopfsteinpflaster gefertigt, vielleicht ein überdimensionierter Fußabdruck! Etwa eine Anspielung auf das Nazi-Erbe von Nürnberg oder nur auf den Beruf von Hans Sachs? Gigantische Kugeln aus Blattwerk baumeln von der Decke, sind das etwa entwurzelte Bäume?! Ansonsten: Leere.
Der Appetit ist so manch einem und manch einer in der zweiten Pause vergangen. Aber, die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt, vielleicht versöhnt ja der dritte Akt. Von wegen: Keine lustige Festwiese, keine umtriebige Volksfeststimmung. Das Publikum blickt stattdessen in eine Art Stadion. Und wie Schaufensterpuppen im Einheitsgewand steht dort ein leichenstarrer Chor. Nicht einmal ein Marschieren mit Fahnen zu ausgelassenen Heils-Rufen gönnt Wieland Wagner den Besucherinnen und Besuchern. Ja, selbst die Silhouette von Nürnberg im Hintergrund fehlt. Diese "Meistersinger ganz ohne Nürnberg" lassen sich nicht einfach mit einem meisterhaft gesungenen "Heile Heile Segen" wegtrösten.
Der Bayerische Justizminister nennt die Inszenierung einen Skandal und will den Festspielen die finanzielle Unterstützung streichen. Politisch rechts gelagerte Stimmen wollen für Wagners Regie das Etikett: "Entartete Kunst" wieder aufwärmen. Tatsächlich und mit den Jahren erweist sich diese "Meistersinger"-Produktion aber als künstlerischer und gesellschaftlicher Triumph. Indem Wieland Wagner die Erwartungen der Alt-Wagnerianer zerstörte, sind diese "Meistersinger" einen maßgeblicher Beitrag zur Ära des sogenannten "Neu-Bayreuth".
Ach ja, viel wurde über die Szenerie geschrieben, wenig über den Cast. Ausgerechnet Hans Hotter, der 1944 auf die Gottbegnadeten-Liste des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gesetzt worden war, hat in dieser Inszenierung einen weisen, stimmlich souveränen, abgeklärten und selbstironischen Hans Sachs gegeben.
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Wagner - Die Meistersinger von Nürnberg - Wahn! Wahn! - Hans Hotter - Cluytens (Bayreuth, 1956)
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Sendung: "Allegro" am 21. Juli 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Mittwoch, 26.Juli, 10:29 Uhr
Herr Fuchs
Gaga Bayreuth
Wen wunderts, nichts anderes erwartet. Wie alles andere auch in dieser gegenwärtigen Gesellschaft, auch hier die totale Endstation.
Mittwoch, 26.Juli, 09:18 Uhr
Stephan Erath
Zukunft ist Vergangenheit
Besser wäre es, man würde sich in Bayreuth auf Wagners Vision seiner Werke fokussieren, anstatt auf die Herausforderung des willigen Publikums durch nehr ooder weniger kryptische Provokation und Einfallslosigkeit("Who the fuck is Grane?"). Wir haben so viele Informationen aus Wagners unzähligen Briefen und Kommentaren, dass es ein notwendiges Projekt wäre, eine Art Idealinszenierung daraus sich zu erschließen.
Mit dem Parsifal hat Wagner nahezu eine Zukunftsvision seiner eigenen Festspielstätte geschaffen. Hoffentlich findet sich ein reiner Tor und auch zukünftige Generationen können diesen besonderen Ort erleben, bevor er eine weitere beliebige Provinztheaterstätte wird. Oft schon war der Hügel in dieser Gefahr, aber der letztjährige Ring und der Fokus auf VR zu offensichtlichen Marketingzwecken(seht wie aktuell und zeitgenössisch) sind echte Warnschüsse.