Ein Monument der Klavierliteratur. Und die Gretchenfrage für jeden Pianisten: Wie hält man's mit Bach? Legato oder Vereinzelung? Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson zeigt mit seiner Einspielung der "Goldberg-Variationen" nun wie man diese Stücke neu zum Leuchten bringt.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
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Eine Stunde und 14 Minuten dauern Bachs Goldberg-Variationen in Víkingur Ólafssons Interpretation, aber die Zeit vergeht wie im Flug. Seinen Namen hat das Stück von Bachs Schüler, dem Pianisten Johann Gottlieb Goldberg. Der sollte angeblich diese Musik nachts einem Grafen mit Schlafstörungen vorspielen. Wahrscheinlich ist das eine Legende – Goldberg war zu diesem Zeitpunkt nämlich erst 13 Jahre alt. Schwer vorstellbar, dass man in dem Alter schon so ein irrwitzig schweres Stück beherrschen kann. Ihren Namen haben die Goldberg-Variationen trotzdem nach dieser Geschichte. Und tatsächlich hat diese Musik etwas von einem heilsamen Mantra. 32 mal wird der immer gleiche Bass wiederholt. Darüber entfaltet sich eine ganze Welt aus Klang und Bewegung. Einschläfernd ist das ganz und gar nicht, im Gegenteil, eher belebend, aber zugleich harmonisierend. Die Wirkung ist geradezu körperlich: Alles fließt, alles löst sich beim eintauchenden Hören. Jedenfalls bei einer so gelungenen Interpretation wie der von Víkingur Ólafsson.
Ólafsson hat einen magisch sensiblen Anschlag. Vor allem, wenn er die Töne im Non-legato-Spiel perlen lässt wie Tautropfen, die im Sonnenlicht glitzern. Die Noten nicht zu verbinden, sondern jeden einzeln aufleuchten zu lassen, gilt als Mittel, um auf dem Steinway das Cembalo mit seinen gezupften Tönen nachzuahmen.
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Pianisten, die Bachs Cembalomusik auf dem modernen Flügel spielen, greifen deshalb gern zum Non-legato, vereinzeln also die Töne. Wird das permanent gemacht, dann kann das allerdings ziemlich zickig wirken. Manchmal sogar widersinnig. Schließlich galt in der Barockzeit der Gesang als höchstes Ideal aller Musik – und beim Singen verbindet man nun mal die Töne. Cembalisten waren und sind stolz darauf, wenn sie auf ihrem Instrument den Gesang nachahmen können. Warum also sollte man auf dem modernen Steinway permanent das zupfende Cembalo nachahmen?
Víkingur Ólafsson liebt und kultiviert das Non-legato, und er beherrscht es mit einer absolut betörenden Perfektion und Leichtigkeit. Aber er wendet es nie stereotyp an. Mit seinem feinen Anschlag hebt er aus den perlenden Läufen und Figuren wechselnde Muster hervor. So wirkt sein Spiel bei aller Leichtigkeit absolut wach und enorm geistesgegenwärtig. Olafsson zaubert mit den Fingerspitzen, verfügt über fifty shades of pianissimo und ist doch alles andere als ein Säusler. Und wenn er auch eine ansteckende Freude an pianistischen Effekten hat, so sind seine spielerischen Launen doch nie effekthascherisch. Im Gegenteil: Sie machen Strukturen hörbar. Dabei nutzt er die vielen Wiederholungen, um unterschiedliche Aspekte derselben Musik auszuleuchten. Mal dominiert die Melodie, mal der Bass, mal die Mittelstimme – als würde man bei einer Kamera abwechselnd Vorder- und Hintergrund scharf stellen. Deshalb wirkt Víkingur Ólafssons kristallines, manchmal übermütiges Spiel nie kühl, sondern zugleich unterhaltsam und vergeistigt. Und in den abgründigen, meditativen Moll-Variationen taucht er ein in eine hochkonzentrierte Gegenwelt. Da vergehen fünf Viertelstunden wie im Flug – egal, ob man genau hinhört oder sich einfach tragen lässt vom einzigartigen Flow dieser Musik.
Víkingur Ólafsson - "Goldberg-Variationen"
Johann Sebastian Bach:
Goldberg-Variationen, BWV 988
Víkingur Ólafsson (Klavier)
Label: DGG
Sendung: "Piazza" am 7. Oktober 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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