Die Musik rettete ihr das Leben. Im Mädchenorchester vom KZ Auschwitz überlebte Esther Bejarano den Holocaust. Später kämpfte sie als Zeitzeugin unermüdlich gegen das Vergessen: "Ich werde singen, bis es keine Nazis mehr gibt!" Die Aufklärung der Jugend war für sie der Schlüssel zum Erhalt der Demokratie. Dafür stand sie immer wieder auf und wurde laut – auf Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerten mit Ghettoliedern und Rap gegen Rechts. Am 15. Dezember wäre Esther Bejarano 100 Jahre alt geworden.
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Die behütete Saarbrücker Kindheit der Kantorentochter Esther Loewy endet mit der Eingliederung des Saarlandes ins Deutsche Reich 1935. Ab jetzt ist auch ihre Familie von den Rassengesetzen der Nationalsozialisten betroffen. Esthers ältere Geschwister emigrieren, doch ihr Vater hält Hitler für eine vorübergehende Erscheinung. Rudolf Loewy ist ein deutscher Patriot und Träger des Eisernen Kreuzes. Erst nach den antisemitischen Gewaltexzessen der Novemberpogrome 1938 plant er die Auswanderung. Aber die jüdische Gemeinde Zürich, auf deren Kantorenstelle er sich bewirbt, lehnt ihn ab. Begründung: Er ist nur "Halbjude". Das ist das Todesurteil für Esthers Eltern, die 1941 verhaftet und in Litauen ermordet werden.
Sie selbst wird im April 1943 nach Auschwitz deportiert. Die zierliche 18-Jährige muss in einer Arbeitskolonne zentnerschwere Steine schleppen. Für eine Extraration Brot singt sie den Blockältesten Lieder von Schubert und Mozart vor. Als musikalisches Talent wird Esther für die SS interessant, die im Lager ein Mädchenorchester gründen will. Sie spielt sehr gut Klavier, aber so ein Instrument gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht in Auschwitz. Eine Akkordeonistin wird gesucht.
Ich habe gesagt: natürlich kann ich Akkordeon spielen, obwohl ich nie eines in der Hand hatte.
Dass sie Musizieren konnte, rettete Esther Bejarano im KZ Auschwitz das Leben. | Bildquelle: picture-alliance_NurPhoto_Artur Widak Fünf Minuten hat sie, um sich über die Bedeutung der Knöpfe des Instruments klar zu werden, dann spielt sie mit dem Mut der Verzweiflung den damals populären Schlager "Bel Ami" vor. Sie besteht die Prüfung, was ihr vermutlich das Leben rettet. Denn als Mitglied des Mädchenorchesters muss sie keine körperliche Schwerstarbeit mehr leisten, erhält bessere Kleidung und ein Bett. Dafür muss sie fröhliche Marschmusik spielen, während die ausgezehrten Mithäftlinge zur Arbeit ausrücken. Oder an der Rampe musizieren, wenn Züge voller Menschen ahnungslos auf jenen Gleisen ankommen, die direkt in die Gaskammern führen. Musik als zynisches Täuschungsmanöver.
Wir standen da mit Tränen in den Augen, aber hinter uns stand die SS mit ihren Gewehren.
Mangelhafte Ernährung und katastrophale hygienische Zustände führen auch bei den Orchestermusikerinnen zu häufigen Erkrankungen. Esther übersteht Typhus, Keuchhusten und eine schwere Avitaminose (Vitaminmangel). Extrem geschwächt wird sie im November 1943 ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie in den Siemenswerken Zwangsarbeit leistet. Als die Alliierten näher rücken, treibt die SS die Häftlinge am 27. April auf einen Todesmarsch Richtung Nordwesten. Dabei gelingt Esther mit einigen Freundinnen die Flucht. In der mecklenburgischen Kleinstadt Lübz erlebt sie am 3. Mai 1945 die Befreiung durch US-amerikanische Truppen und Rote Armee: "Ein russischer und ein amerikanischer Soldat haben auf dem Marktplatz ein riesiges Hitler-Bild angezündet. Die Mädchen aus dem KZ und die Soldaten haben um dieses Bild getanzt und ich habe Akkordeon gespielt. Das war meine zweite Geburt", erzählt Esther Bejanaro rückblickend.
Auch die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch hat im Mädchenorchester von Auschwitz gespielt und so überlebt. Als Zeitzeugin ist sie bis ins hohe Altere aktiv: "Musik ist nicht zu töten", erklärt die mittlerweile 99-Jährige.
Wenige Monate später reist Esther Loewy nach Palästina aus, wo ihre ältere Schwester lebt. Sie studiert Gesang und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wird während des Unabhängigkeitskriegs zur Armee eingezogen und gibt Konzerte in Soldatencamps. Im Arbeiterchor Ron lernt sie den Gewerkschaftler Nissim Bejarano kennen, 1950 heiratet das Paar. Doch so richtig heimisch fühlen sie sich nicht im schwer umkämpften "gelobten Land". Das Klima macht Esther zu schaffen, vor allem aber kann sie sich immer weniger mit Israels Aggressionspolitik gegenüber der arabischen Bevölkerung gegenüber identifizieren: "Ich bin diskriminiert worden von den Nazis, weil ich Jüdin bin. Und ich konnte es einfach nicht ertragen, dass mein Volk ein anderes Volk diskriminiert, nämlich die Palästinenser."
1960 kehrte Esther Bejarano nach Deutschland zurück. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Da landet ein "Heimatschein" aus Deutschland in ihrem Briefkasten, um sie an ihre noch immer bestehende Staatsbürgerschaft zu erinnern. Esther entscheidet sich trotz vieler Zweifel zur Rückkehr ins "Land der Täter". Die Bejaranos lassen sich 1960 mit ihren zwei Kindern in Hamburg nieder. Nach schwierigen Jahren der beruflichen Neuorientierung findet Nissim eine Arbeit als Feinmechaniker und Esther eröffnet eine Boutique in Eimsbüttel. Genau dort holt sie im Sommer 1978 die Vergangenheit ein: Die NPD errichtet in Sichtweite ihres Geschäfts einen Infostand und macht sich mit aggressiven Parolen auf Stimmenfang. Die Polizei marschiert auf, geht allerdings nicht gegen die Rechtsextremen vor, sondern gegen eine Gruppe von antifaschistischen Gegendemonstranten.
Die TV-Doku "Esther Bejarano - Die Stimme gegen das Vergessen" finden Sie bei ARD Klassik in der ARD Mediathek.
"Ich bin zu einem Polizisten gelaufen, habe ihn am Revers gepackt und gesagt: Was machen Sie denn hier? Wen schützen sie hier?" Die Polizei droht der aufgebrachten Esther Bejarano mit Festnahme, während sie grölende Neonazis in Schutz nimmt – ein Schlüsselerlebnis. Sie kann nicht länger ignorieren, dass rechte Gewalt in Deutschland wieder auf dem Vormarsch ist, dass eine Entnazifizierung niemals flächendeckend stattgefunden hat und die NS-Verbrechen von der Gesellschaft verdrängt werden.
Bildquelle: picture alliance / Flashpic | Jens Krick Nachdem sie – wie viele Holocaust-Überlebende – jahrzehntelang über ihre Lagervergangenheit geschwiegen hat, wird sie jetzt aktiv. Sie tritt der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei und gründet das Auschwitz-Komitee für die Bundesrepublik Deutschland. Sie veröffentlicht Bücher, gibt Interviews, ist häufiger Gast in Talk-Shows und besucht regelmäßig Schulklassen: "Ich sage immer zu den Schülern: Ihr seid nicht schuld an dem, was damals geschah. Aber ihr macht Euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Geschichte wissen wollt. Wenn ihr das nicht wisst, kann es jederzeit wieder passieren."
Ihr seid nicht schuld an dem, was damals geschah. Aber ihr macht Euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Geschichte wissen wollt.
Esther Bejarano 2016 zusammen mit der Kölner Hip-Hop-Gruppe Microphone Mafia. | Bildquelle: Timm Schamberger Wo immer sie auf der Bühne steht: Ihre Ehrlichkeit, Empathie und Energie wirken so mitreißend wie ihr Humor und ihre Lebensfreude. Das Charisma dieser 1,47 m kleinen Person ist enorm – zumal sie jetzt die Musik für ihr politisches Engagement neu entdeckt: Sie tritt in den 1980ern mit Harry Belafonte, André Heller und Miriam Makeba bei den großen "Künstler für den Frieden"–Konzerten auf, singt mit Konstantin Wecker seinen antifaschistischen Klassiker "Sage nein!" und gründet mit Tochter Edna und Sohn Joram die Gruppe Coincidence. Sie singt Lieder aus dem Ghetto, Lieder der Arbeiterbewegung und des Widerstandes auf Deutsch, Jiddisch und Hebräisch. Über 80jährig startet sie mit der Kölner Hip-Hop Band Microphone Mafia eine Zusammenarbeit, die zu über 170 Konzerten unter dem Motto "Rap gegen Rechts" führt.
Ich werde singen, bis es keine Nazis mehr gibt!
Sagt sie trotzig im Talk bei Anne Will – wohl ahnend, dass ihr so viel Zeit nicht mehr bleibt. Doch ihre Art von Gedenken ist nicht rückwärtsgewandt, sondern will Gegenwart und Zukunft verändern. Wann immer es um das Schicksal von Flüchtlingen geht, um rassistische Diskriminierung, um antisemitische Attentate, um Ausgrenzung von Minderheiten – meldet sich Esther Bejarano zu Wort. Bis zu ihrem Tod im Alter von 96 Jahren ist sie bei Gedenkfeiern, Lesungen und Kundgebungen persönlich dabei, und sei es im Rollstuhl.
Am 27. Januar 2021, wenige Monate vor ihrem Tod, lanciert sie in den Tagesthemen anlässlich des Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz einen aufrüttelnden "Zwischenruf", der heute wie ein Vermächtnis wirkt: "Wir sind nur noch wenige, wir Überlebende der Konzentrationslager. Wir erinnern, um zu verändern, um unsere Demokratie zu bewahren. Was in den Gaskammern endete, begann mit Repression, Ausgrenzung, Rassismus. Das kennen viele der Jungen. Oft höre ich dann: Frau Bejarano, auch wenn Sie einmal nicht mehr da sind, wir werden Ihre Geschichte immer weitererzählen. Das ist meine große Hoffnung."
Sendung: "KlassikPlus" am 13. Dezember 2024 ab 19:05 Uhr:
"Die Musik ist meine Rache. Zum 100. Geburtstag der Holocaust-Überlebenden und Friedensaktivistin Esther Bejarano"
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