Alfred Schnittke war weit mehr als "nur" ein aus der Sowjetunion emigrierter Komponist deutscher Abstammung. Seine Musik prägte das Konzertleben der frühen 1990er-Jahre wie kaum eine andere. Am 24. November wäre er 90 Jahre alt geworden.
Bildquelle: imago/ITAR-TASS
Fast jede Woche wurde in den 90er-Jahren irgendwo auf der Welt ein Werk des Wolgadeutschen Alfred Schnittke aufgeführt, oftmals als Auftragskomposition. Das schwedische Label BIS veröffentlichte fast sein gesamtes Werk auf CD. Um das Filmmusik-Erbe des 1998 in Hamburg verstorbenen Alfred Schnittke kümmert sich heute der Münchener Dirigent Frank Strobel.
Strobel kam erstmals im Kino seiner Eltern mit Schnittkes Musik in Berührung. Dort sah er den Film "Das Märchen einer Wanderung", der von Schnittkes eindringlicher Musik untermalt wurde. Seitdem ist Strobel von Schnittkes Werk fasziniert, insbesondere von der Mischung aus Nostalgie und den vielfältigen Zitaten der Musikgeschichte. "Diese Musik berührt einen unmittelbar, und genau das habe ich auch in meiner persönlichen Begegnung mit Schnittke so empfunden", erzählt Strobel.
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Das Marchen der Wanderungen (The Fairytale of the Wanderings) (arr. F. Strobel) :...
Filmmusik war für Schnittke nicht nur ein Broterwerb, sondern auch eine Grundlage, um seinen eigenen Stil zu entwickeln. Bis zu seiner Übersiedlung nach Hamburg in den frühen 1980er-Jahren komponierte er zahlreiche Filmmusiken, viele davon mit über einer Stunde Laufzeit – ein bedeutender Teil seines Schaffens.
Internationale Aufmerksamkeit erlangte Schnittke in den späten 80ern, besonders bei den Berliner Festwochen, als er zusammen mit Sofia Gubaidulina und Gija Kantscheli auftrat. Diese Komponisten präsentierten eine emotional direkte Musik, die sich von der intellektuell geprägten westeuropäischen Avantgarde abhob. Ein markantes Beispiel dafür ist Schnittkes Werk "Moz-Art à la Haydn", das Mozart und Haydn zitiert und verschiedene Musikstile collagiert – ein Wechselbad der Gefühle.
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Alfred Schnittke - "Moz-Art a la Haydn" for two violins and string orchestra (audio + sheet music)
"Wir Deutsche haben oft Vorbehalte gegenüber der emotionalen Kraft zeitgenössischer Musik", vermutet Frank Strobel. "Wir gehen meist intellektueller an sie heran." 1992 dirigierte Strobel Schnittkes Stummfilmmusik "Die letzten Tage von St. Petersburg" an der Oper Frankfurt – ein Höhepunkt der "Schnittke-Welle" in Deutschland, der sogar live im Fernsehen übertragen wurde.
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The Last Days of St. Petersburg Suite (Arr. F. Strobel) : III. —
In den 1960er- und 1970er-Jahren schrieb Schnittke zahlreiche Filmmusiken für die sowjetische Produktionsfirma Mosfilm, darunter auch für Trickfilme wie "Die Abenteuer eines Zahnarztes". Insgesamt entstanden über 60 Filmmusiken zwischen 1961 und 1993. Diese Werke reichen von beeindruckenden bis hin zu grotesken Kompositionen und zeichnen sich durch starke Kontraste und oft grelle Ausdrucksformen aus. Die verrückte, fragmentarische Ästhetik seiner Konzertmusik findet sich hier in Urform wieder.
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Adventures of a Dentist Suite (arr. F. Strobel) : III. Der Park: Tempo di valse
Frank Strobel bleibt auch weiterhin eng mit Schnittkes Werk verbunden: "Die Vielfalt seiner Filmmusik, die sich, ähnlich wie bei Schostakowitsch, in vielen Genres bewegt, ist faszinierend. Für Schnittke war sie eine wichtige Basis, um seine eigene künstlerische Sprache zu entwickeln." Parallel zu seiner Arbeit als Filmkomponist schrieb Schnittke Orchesterwerke und Symphonien, die oft als Reflexionen auf die Musikgeschichte wirken. Für Solisten wie Gidon Kremer und Natalia Gutman experimentierte er mit Stilen, die teils nostalgisch, teils wie ein Echo eines imaginären Films anmuten. Diese Werke sind eine Gratwanderung zwischen apokalyptischer Wucht und skurriler Leichtigkeit.
Heute ist es ruhiger geworden um das musikalische Erbe von Schnittke. Doch seine Hauptwerke bleiben faszinierend und sind nach wie vor zu entdecken. Besonders seine 1. Symphonie ist ein wildes und präzises Panorama der sowjetischen Verhältnisse – absurd, schmerzvoll und voll tiefgründigem Humor. Schnittke komponierte, wie es der Schriftsteller Nikolai Gogol beschrieben hätte: grimassierend, irritierend und zugleich rührend. Mit dieser Symphonie forderte er die sowjetischen Zensoren heraus, die ihn zeitlebens einschränkten. Es ist an der Zeit, dieses Meisterwerk wiederzuentdecken – eine Musik zwischen Kino und Performance.
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Gennadi Rozhdestvensky conducts Schnittke Symphony No. 1
Sendung: "Leporello" am 22. November 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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