Juden seien von Natur aus nicht in der Lage, wahre Kunst zu erschaffen – das behauptete kein Geringerer als Richard Wagner. Seine Hetzschrift "Das Judenthum in der Musik" hatte fatale Folgen. Zum 9. November, dem Gedenktag zur Reichspogromnacht, bietet BR-KLASSIK ein historisches Close-Up zum Thema Antisemitismus in der Klassik – mit Blick auf die aktuelle Situation.
Ein Moment, der Musikgeschichte schrieb: Am 11. März 1829 erklang in Berlin die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Nach Bachs Tod war das barocke Meisterwerk in Vergessenheit geraten. Dass die Berliner Singakademie es wiederaufführte, war einem zwanzigjährigen Musikgenie zu verdanken: Felix Mendelssohn Bartholdy. "Was ist das für ein wunderlicher Zufall, dass es ein Judenjunge sein muss, der den Leuten die größte christliche Musik wiederbringt", meint Mendelssohn nach dem Konzert mit bitterer Selbstironie.
Ein getaufter Jude als Leiter einer Passionsaufführung – zu Bachs Lebzeiten wäre das undenkbar gewesen. Von der Kirche als "Gottesmörder" geächtet, lebten Juden in Ghettos, eine gesellschaftliche oder politische Teilhabe war ihnen verwehrt. "Judenhass war damals in der Gesellschaft durchaus normal", erzählt Tina Frühauf, Professorin für Musikwissenschaft an der Columbia University in New York. Das spiegelt sich auch in Bachs Matthäuspassion wider, in der manche Forscherinnen und Forscher antisemitische Tendenzen sehen. In einem furios geschriebenen Chorsatz auf den von Martin Luther übersetzten Text des Matthäusevangeliums verfluchen die Juden sich selbst und singen: "Sein Blut komme über uns und unsre Kinder". In Luthers Deutung bringt diese "Selbstverfluchung" den Juden ewiges Unglück und Verdammnis. War Johann Sebastian Bach also ein Antisemit? Tina Frühauf schüttelt den Kopf: "Bach war zwar geprägt durch die Einflüsse seiner Zeit und durch sein Umfeld, aber er war in erster Linie Musiker". Für eine antijudaistische Haltung Bachs gibt es für sie keine eindeutigen Belege.
Judenhass war damals in der Gesellschaft durchaus normal.
Die Aufklärung brachte dem Judentum die Emanzipation. "Sie wurden anderen Gesellschaftsmitgliedern gleichgestellt. Sie mussten nicht mehr in Ghettos wohnen und durften Berufe ergreifen, die ihnen bislang verboten waren." Das hohe Bildungsniveau und eine Bereitschaft zum Risiko machten das neue jüdische Bürgertum äußerst erfolgreich, so Nemtsov. Das galt auch für das Kultur- und Musikleben. So wurde Felix Mendelssohn zu einem der bedeutendsten Musiker und Komponisten seiner Zeit. Und der jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer machte mit seinen Opern international Karriere.
Neidisch auf den großen Erfolg jüdischer Komponisten wie Mendelssohn oder Meyerbeer war auch der junge Richard Wagner, so Tina Frühauf. "Die Angst, dass es jemandem, der sozusagen nicht aus dem eigenen Kulturkreis kommt, besser geht als einem selbst – dieses Phänomen können wir ja auch heute noch sehen. Und diese Missgunst äußert sich oft darin, andere Gruppierungen zu attackieren." In Wagners Fall ist diese "Attacke" eine Schrift mit dem Titel "Das Judenthum in der Musik". Die erste Fassung erschien 1850. Über Mendelssohn steht dort: "Dieser Mendelssohn hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Tatenfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten."
Richard Wagner war Anhänger des "Modernen Antisemitismus", einer neuen Form von Judenhass, die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbreitete. Die Feindschaft gegen Juden wurde nun nicht mehr religiös begründet, sondern anhand von vermeintlich naturwissenschaftlichen Argumenten. "Die Andersartigkeit der Juden wird biologisch erklärt", erläutert Nemtsov. "Sie gehören laut dieser Theorie einer anderen Rasse an, der semitischen." Darauf weist der Begriff "Antisemitismus" hin, der 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr entstand. "Probleme, die man mit den Juden hatte, wurden durch die biologische Natur der Juden erklärbar."
Wagner trägt an der Verbreitung des Antisemitismus eine Mitschuld.
Übertragen auf den Kulturbereich bedeutete das für Richard Wagner, dass Juden aufgrund ihrer Natur unfähig seien, wahre Kunst zu erschaffen. Eine antisemitische Ansicht, die sich rasch verbreitete. Denn inzwischen war Richard Wagner ein berühmter Komponist, seine Werke wurden in ganz Europa gespielt. "Wagner hat den Antisemitismus in der Kunstwelt sozusagen salonfähig gemacht. Nach dem Motto: Wenn der berühmte Wagner sich öffentlich antisemitisch äußert, dann dürfen wir das auch", so der Kultur- und Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer. "An der Verbreitung des Antisemitismus trägt er eine Mitschuld."
Wagners antisemitische Gesinnung bekam auch der jüdische Dirigent Hermann Levi immer wieder zu spüren, Hofkapellmeister an der Hofoper München und Sohn eines Rabbiners. Levi war selbst ein begeisterter Wagnerianer. Jahrelang arbeitete er mit Wagner in Bayreuth zusammen. Doch der Komponist und seine Frau Cosima bedrängten ihn immer wieder, sich taufen zu lassen. Vor allem vor der Uraufführung des "Parsifal" setzte Wagner Levi unter Druck. Ihm passte es ganz und gar nicht, dass ein Jude ein "christliches Bühnenweihspiel" leiten sollte. Erst als sich König Ludwig II. einmischte und Wagner das Münchner Hofopernorchester nur unter der Bedingung zur Verfügung stellte, dass Levi dirigierte – auch ohne Taufe –, akzeptierte Wagner.
Während Hermann Levi eine Konversion zum Christentum zeitlebens ablehnte, sah Gustav Mahler als Sohn jüdischer Eltern in der Taufe die einzige Möglichkeit für eine musikalische Karriere. "Mein Judentum verwehrt mir den Eintritt in jedes Hoftheater. Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst der gleiche Wind", schrieb er resigniert.
Mein Judentum verwehrt mir den Eintritt in jedes Hoftheater.
Mahler wünschte sich nichts sehnlicher, als Musikdirektor an der Wiener Hofoper zu werden. "Ihm wurde klargemacht, dass er den Posten nicht bekommen würde, wenn er sich nicht taufen lassen würde", erklärt Jens Malte Fischer. "Wien war damals eine Hochburg des Antisemitismus in Europa." Also konvertierte Gustav Mahler im Februar 1897 in der Hamburger St. Ansgarkirche offiziell zum Katholizismus, um das "Problem" seiner jüdischen Herkunft auszuräumen.
Antisemitismus war damals nichts Schlimmes in den Augen vieler Leute – das musste Mahler bitter erfahren.
Gustav Mahler litt sehr unter den Anfeindungen. Aber seine Taktik war, nicht darauf zu reagieren. Er konzentrierte sich lieber auf seine musikalische Karriere. Als Dirigent wurde er in die großen Konzertsäle Europas eingeladen. Als Komponist hingegen war sein Erfolg durchwachsen. Viele Musikkritiker beschrieben seine Sinfonien als "äußerlich", "bombastisch", aber "seelenlos". Dabei bedienten sie – ob bewusst oder unbewusst – die zum Klischee verfestigten Vorurteile aus Wagners "Judenthum in der Musik". Vorurteile, die Jens Malte Fischer noch in zahlreichen musikwissenschaftlichen Publikationen der 1950er Jahre entdeckt.
Wie tief Wagners antisemitische Behauptungen in die Klassikwelt eindrangen, zeigt sich auch am Beispiel des jüdischen Komponisten Arnold Schönberg. Als junger Mann konvertierte er zum Protestantismus – nicht zuletzt unter dem Einfluss Wagnerscher Ideen, so der Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov: "Für Schönberg war es eine Quelle innerer Qual, dass Juden angeblich zu einer echten Kunst nicht fähig waren. Denn er war Jude und wollte nun mal Künstler werden." Sein Judentum empfand Schönberg als Handicap, das er ablegen wollte. "Auch um nach außen zu signalisieren: Ich gehöre nicht mehr dazu", so Nemtsov.
Für Schönberg war es eine Quelle innerer Qual, dass Juden angeblich nicht zu echter Kunst fähig waren.
Im Mai 1933 verließ er mit seiner Frau und seiner Tochter Deutschland. Die Reiseroute: von Berlin über Paris nach Le Havre, von wo sie ein Schiff nach New York bringen sollte. Beim Zwischenstopp in Paris bekannte sich Arnold Schönberg in einer Synagoge wieder offiziell zum Judentum. "Ich war seit 14 Jahren vorbereitet auf das, was jetzt gekommen ist", schrieb er über diesen bedeutsamen Schritt. "Ich habe mich, wenn auch schwer und mit vielen Schwankungen, schließlich definitiv von dem gelöst, was mich an den Okzident gebunden hat. Ich bin seit langem entschlossen, Jude zu sein."
Ich bin seit Langem entschlossen, Jude zu sein.
Während Schönberg in den USA als Professor lehrte und komponierte, wurden in Deutschland seine Werke als "entartete Kunst" diffamiert und verboten. "Ein Jude, noch dazu Begründer einer wichtigen Strömung der Neuen Wiener Schule: Damit wurde Schönberg zur Symbolfigur des zersetzenden Einflusses der Juden im Musikleben", sagt Nemtsov. Auch die Kompositionen von Mendelssohn und Mahler galten als "entartet" und wurden von den Spielplänen gestrichen. Das Exil rettete Arnold Schönberg und seine Familie vor dem Holocaust. Im Gegensatz zu unzähligen Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Erschüttert setzte Schönberg den Gräueln des Holocaust ein musikalisches Mahnmal mit seinem Melodram "Ein Überlebender aus Warschau".
Israelbezogener Antisemitismus ist die aktuell gängigste Form des Antisemitismus – auch in Deutschland.
So sah das auch Björn Gottstein, der ehemalige Leiter der Donaueschinger Musiktage, als er 2018 ein israelkritisches Werk des Komponisten Wieland Hoban ablehnte: "Israelbezogener Antisemitismus ist die aktuell gängigste Form des Antisemitismus – auch in Deutschland. Daher würde ich es für ein fatales Signal halten, wenn bei den Donaueschinger Musiktagen ausgerechnet Israel als einziger Staat in einem Musikstück massiv kritisiert wird." Wieland Hoban, dem seine jüdische Herkunft wichtig ist, warf dem Festivalleiter Zensur vor und behauptete, im deutschen Kulturleben werde eine kritische Debatte über Israel verhindert. Zahlreiche Musikerkolleginnen und -kollegen unterzeichneten seinen Offenen Brief.
Wenn es um Antisemitismus in der Klassik geht, ist für Tina Frühauf die Aufarbeitung der Vergangenheit eine wichtige Aufgabe. Für ihr aktuelles Buch "Transcending Dystopia: Music, Mobility, and the German-Jewish Community" hat sie sich intensiv mit jüdischen Komponisten auseinandergesetzt, deren Musik im Nationalsozialismus als "entartet" zensiert und später vergessen wurden.
Die Lebensgeschichte der Namenspatin des Forums geht Karin Germerdonk besonders nah. Alma Rosé war eine hervorragende Geigerin und wuchs in einem jüdischen Haushalt auf. 1943 wurde sie ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und gründete dort trotz der unmenschlichen Bedingungen ein Mädchenorchester. "Sie wusste, dass sie und die anderen Musikerinnen nur überleben können, wenn sie Bestleistungen bringen", erzählt Germerdonk. "Alma Rosé war mit ihrer Musik in ihrer eigenen Welt und dadurch dem Wachpersonal eigentlich nicht greifbar. Eine Form von Widerstand, die einzigartig ist." Dank der engagierten Geigerin haben einige Frauen des Orchesters das Konzentrationslager überlebt, darunter die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch. Alma Rosé hingegen starb im April 1944.
Das Forum möchte die Musik und Literatur derjenigen thematisieren, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden - wie Alma Rosé. Geplant ist beispielsweise eine Tour quer durch Deutschland "auf der Suche nach den Wirkungsstätten der Nationalsozialisten und vor allem auf der Suche nach den Spuren ihrer Opfer", so Karin Germerdonk. Gleichzeitig will das Forum Alma Rosé aufzeigen, welche weiteren Vereine und Initiativen sich heute gegen die Neonazis, gegen Rechtsradikalismus oder gegen die AfD stellen. Ein weiterer Plan ist ein Wettbewerb zur Vertonung jüdischer Literatur, der sich speziell an junge Menschen richtet. Die Ergebnisse sollen dann als Performance im Internet zu sehen sein.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel Anfang Oktober 2023 ist Antisemitismus in verschiedenen Ebenen und Bereichen wieder das aktuelle Nachrichtenthema, auch und gerade in Deutschland. Einmal mehr werden Israelkritik und Antisemitismus in einer gefährlichen Gemengelage vermischt. Die Klassik-Szene zeigt sich international geschockt. So gibt es neben verurteilenden Worten auch Konzerte, um ein Zeichen zu setzen und Hoffnung zu spenden, darunter in Israel selbst, in den USA, aber auch in Deutschland, etwa in Cottbus oder in Hamburg. Der Pianist Igor Levit beklagt indes ein weit verbreitetes Schweigen "in großen Teilen der deutschen Kulturlandschaft" und lädt zu einem Solidaritätskonzert am 27. November im "Berliner Ensemble" an der Seite u.a. von Ulrich Noethen, Michel Friedman und Luisa Neubauer. "So kann es nicht weitegehen", schreibt Levit in der Ankündigung des Konzerts, das unter dem Motto "Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus" steht.
Sendung: Allegro am 9.11.2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK