Die Berliner Philharmoniker sind bereits in die neue Spielzeit gestartet. Nach dem Saisonauftakt daheim geht das Orchester traditionell auf Festival-Tour quer durch Europa. Gleich zweimal gastierten Chefdirigent Kirill Petrenko und seine Elitetruppe bei den Salzburger Festspielen. Es waren fulminante Konzertabende.
Bildquelle: EuroArts/Stephan Rabold
Wenn der Oboist Albrecht Mayer zu Beginn mit einer traumhaft schönen Kantilene anhebt, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen beim ersten Konzert der Berliner Philharmoniker in Salzburg. Dabei geht es jetzt erst richtig los mit den charmanten "Mozart-Variationen" von Max Reger. Über das bekannte Eingangsthema der A-Dur-Klaviersonate KV 331 hat der Mozart-Fan Reger 1914 acht kontrastreiche Variationen und eine kunstvoll verschraubte Schlussfuge komponiert. Eine Reihe von Charakterbildern – mal graziös, mal verträumt, mal burschikos, mal kraftvoll –, die für die Klangkultur und den Spielwitz der Berliner Philharmoniker maßgeschneidert sind. Jedenfalls, wenn der Chef am Pult steht, der mittlerweile 51-jährige Kirill Petrenko.
Wer von den internationalen Stars erinnert schon an den vor 150 Jahren in der Oberpfalz geborenen Max Reger? Petrenko hat die "Mozart-Variationen" mit Bedacht gewählt – und macht mit seinem famosen Orchester ein Kabinettstück daraus. Weich fließend im Klang, kostet er jede Phrase von Reger mit einem Lächeln aus. Das trippelt elegant, seufzt schwerblütig und poltert auch mal rein. Jedes Detail ist liebevoll ausgestaltet wie Meißener Porzellan, stilisiertes Rokoko. Und natürlich entwirrt Petrenko auch das Stimmengeflecht in der pompös gesteigerten Fuge mit Bravour – Kuddelmuddel entsteht da zu keiner Sekunde.
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Dass Petrenko eine Ader für die Spätromantik hat, zeigte sich erst recht im monumentalen "Heldenleben" von Richard Strauss. Autobiografisch oder nicht, passt diese vor Selbstbewusstsein strotzende Tondichtung doch perfekt zum Saisonmotto der Berliner Philharmoniker: "Heroes". Und heldenhaft bewältigen nicht nur die acht Hörner dieses Paradestück für Spitzenorchester. Von Anfang an hält Petrenko die Zügel fest in der Hand, lässt den Prachtklang der Philharmoniker leuchten, kehrt die atonalen Züge in "Des Helden Widersacher" mit den schrill kreischenden Holzbläsern in nie gehörter Weise heraus.
Mit einem atemberaubenden Violinsolo zeichnet Strauss "Des Helden Gefährtin" – Gelegenheit für die neue Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner, der ersten in der langen Geschichte des Orchesters, ihre hochexpressive Virtuosität unter Beweis zu stellen. Bedrohlich, und leider sehr aktuell, klingen dann die unerbittlichen Marschtritte in "Des Helden Walstatt", bevor dieser dann seinen Frieden findet. Auch im größten Getümmel behält Petrenko jederzeit den Überblick und schafft durch ungewöhnlich lange Generalpausen zusätzlich Spannung. Das ist ganz großes Kino.
Wie ein roter Faden zog sich das Thema "Variationen" auch durch das Programm des zweiten Konzerts. Brahms mit Schönberg zu kombinieren, funktioniert fast immer – hatte der Neutöner den Romantiker aus Bewunderung für dessen hochentwickelte Variationstechnik doch den "Fortschrittlichen" genannt. Angenehm zügig und organisch fließend nimmt Petrenko die "Haydn-Variationen" von Brahms, dabei nie schwerfällig. Nahtlos fügt er die detailliert ausgefeilten Genrestücke, die Stimmungsbildern gleichen, zu einem großen Bogen.
Zum Highlight wurden dann die berühmten Orchestervariationen op. 31 von Arnold Schönberg, die Wilhelm Furtwängler 1928 mit den Berliner Philharmonikern mehr schlecht als recht aus der Taufe gehoben hatte. Da läuft der Formkünstler Petrenko, der die Struktur von Musik wie kein Zweiter freilegt und transparent macht, zu Hochform auf. Wie er das hochkomplexe Satzgefüge in diesen krass gegeneinander gesetzten Miniaturen auflichtet und das ganze Spektrum von Schönbergs Klangfarben auslotet, ist schlicht genial. Selten hat der typische Zwölfton-Sound Schönbergs facettenreicher geklungen: flirrend und geheimnisvoll, wildgezackt und grell, kühl und sinnlich. Eine furiose Orchesterleistung.
Als Rausschmeißer dann die Achte Symphonie von Beethoven, auch wieder perfekt durchgearbeitet und dynamisch fein ausdifferenziert. Aber da lässt Petrenko seine Musikerinnen und Musiker auch einfach mal spielen, was ihnen sichtlich Spaß macht. Pointiert kommt das "tickende" Allegretto scherzando daher, wie ein Wirbelwind rast die Elitetruppe dann durchs widerborstige Finale. Das ist gepflegter philharmonischer Beethoven, makellos gespielt und satt im Klang – aber doch weit weg von historisch informierter Spielpraxis. Das ist dann Geschmackssache. Der Präzisionsfanatiker und Feuerkopf Kirill Petrenko hat seit Amtsantritt bei den Berliner Philharmonikern 2019 ganze Arbeit geleistet. In Salzburg präsentiert sich das Orchester in Bestform, von einer kaum zu toppenden Brillanz und Klangkultur. Keine Frage: Dieses Orchester ist eine Klasse für sich. Ovationen.
Sendung: "Leporello" am 29. August ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK