Wer sonst schrieb einen Song, der rund 70 000 Mal aufgenommen wurde? Wer ließ einen Klarinettenton effektvoller zweieinhalb Oktaven hochklettern? Ein Sohn russisch-jüdischer Einwanderer wurde zu einem der bedeutendsten Klang-Schöpfer Amerikas. Er starb tragisch früh, mit 38. Am 26. September 2023 wäre der Komponist George Gershwin 125 Jahre alt geworden.
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Ein Wiegenlied. Die Fischersfrau Clara in der amerikanischen Hafenstadt Charleston singt an einem Sommerabend ihr Baby in den Schlaf. Mit einer ganz einfachen Melodie, die nach einem Spiritual klingt. Es ist das "Lied der Clara", mit der die Oper "Porgy and Bess" beginnt. Dieses Lied kennt die Welt viel besser unter dem Titel "Summertime". Es ist ein einfaches Lied mit raffiniertem Untergrund. Moll-Akkorde pendeln unter der Silbe "-time" um einen Ganzton hin und her, harmonisch angereichert durch eine Sexte. Dieses hinzugefügte Intervall wirkt bei Moll-Akkorden dissonant, verleiht ihnen etwas Unruhiges, Flirrendes, untergründige Spannung. Ein Lied wie die Ruhe vor dem Sturm.
Schon einige wenige Takte dieses Songs zeigen, was für ein meisterhafter Komponist der Amerikaner George Gershwin war. Nicht nur, dass er mit "Summertime" und anderen Songs seiner Oper sich mit großem Respekt und viel Feingefühl vor der frühen afroamerikanischen Musik verbeugte – er schuf mit der Musik von "Porgy and Bess" auch Stücke mit einer ganz hohen Halbwertszeit. Fast ein Jahrhundert später klingt kein Ton davon antiquiert. Was "Summertime" betrifft: Etwa ein 2020 veröffentlichtes Video der amerikanischen Melancholie-Königin des Pop, Lana Del Rey, verzeichnet bisher 4,4 Millionen Aufrufe. Eine Klangsprache, die es mühelos ins 21. Jahrhundert geschafft hat.
Der Komponist George Gershwin hatte eine nur kurze Lebens- und Schaffenszeit. Doch er hinterließ ein immenses musikalisches Erbe. Gershwins Musik überwand viele Genregrenzen. Heute sind seine Werke Teil des klassischen Orchester- und Klavierrepertoires, stellen seit vielen Jahrzehnten ein Kernrepertoire des Jazz und finden seit den 1960er Jahren immer wieder auch Wege in die jeweils aktuelle Popmusik. Gershwin, so schreibt der amerikanische Musikpublizist Alex Ross in seinem vielgepriesenen Buch "The Rest Is Noise" von 2007, "war das bemerkenswerteste musikalische Phänomen im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts, der Mann, in dem alle misstönenden Tendenzen der Ära sich zu süßer Harmonie vereinigten". Wobei "süß" hier nicht mit "süßlich" zu verwechseln ist: Eine wie selbstverständliche Harmonie ist gemeint – erzeugt durch die hohe Kunst eines Komponisten, der einen unverwechselbaren eigenen Klang schuf.
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Gershwin erklärt
In diesem Video erklärt die Dirigentin Erina Yashima, was es mit der "Rhapsody in Blue" auf sich hat.
George Gershwin wurde am 26. September 1898 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Seine Eltern waren jüdische Immigranten aus Russland. Die väterliche Familie hieß Gershowitz. Der Vater, Moishe Gershowitz, änderte bald nach der Ankunft in New York seinen Namen, damit er amerikanisch klang: Morris Gershwine. Der zweite Sohn, der spätere George Gershwin, hieß laut Geburtsurkunde Jacob Gershwine. Da er in der Familie aber stets "George" gerufen wurde, setzte sich dieser Vorname durch, und im Nachnamen fiel das "e" weg, was offenbar der Aussprache des Namens unter jüdischen Immigranten entsprach. Den Vornamen Jacob hatte er nach seinem Großvater väterlicherseits erhalten ("Jakov Gershowitz"), der einst im ukrainischen Odessa geboren worden war.
George Gershwin und sein älterer Bruder Ira (der laut Geburtsurkunde mit Vornamen "Israel" hieß) wuchsen in einer Mittelklasse-Familie auf, die vier Kinder hatte und häufig umzog – zwischen 1900 und 1917 sollen es (laut David Ewens Gershwin-Biografie "George Gershwin – Vom Erfolg zur Größe") 28 verschiedenen Adressen gewesen sein. Der Vater leitete Restaurants, Bäckereien, Pensionen und andere, immer wieder neue Unternehmungen und wollte nah an der Arbeitsstätte wohnen. Georges Bruder Ira lebte von 1896 bis 1983. Er war von früher Jugend an besonders an Literatur interessiert – und wurde Texter vieler Lieder George Gershwins.
Was George betrifft, betonen Biographen gern, dass er sich am liebsten auf der Straße herumtrieb, Rollschuhlaufen und Raufen hätten zu seinen bevorzugten Beschäftigungen gehört. Fest steht aber auch, dass er sehr früh für Musik empfänglich war. Mit sechs soll er wie angewurzelt vor einer Bar stehen geblieben sein, aus der die Töne von Anton Rubinsteins "Melodie in F" drangen. Auch die Musiker des afroamerikanischen Ragtime-Bandleaders James Reese Europe soll er während dieser Zeit in New York gehört haben – worauf er immer wieder sein Interesse an Rags, Blues und Spirituals zurückführte. Ein besonderes Schlüssel-Erlebnis soll ihm der achtjährige Maxie Rosenzweig verschafft haben: Draußen auf der Straße soll George Gershwin den Jungen, der später unter dem Namen Max Rosen Karriere als Geiger machte, durch ein offenes Fenster gehört haben, als er Antonin Dvoraks Ges-Dur-Humoreske spielte, das bekannteste von acht ursprünglich für Klavier komponierten Stücken von 1894. "Es war wie eine Erleuchtung", schilderte Gershwin später. Die beiden Jungen freundeten sich an – und George Gershwin entbrannte für die Musik.
Mehr über George Gershwin hören Sie in unserer "Jazztime" am Dienstag (26.9.) und Mittwoch (27.9.) ab 23:05 Uhr, sowie am Samstag (30.9.) ab 18:05 Uhr in "Jazz und mehr" auf BR-KLASSIK.
Als für den älteren Bruder Ira ein Klavier angeschafft wurde, nahm George Gershwin es bald in Besitz und saß den ganzen Tag an den Tasten. Als er vierzehn war, fand er einen Lehrer, der ihn besonders prägte: den Solisten und Komponisten Charles Hambitzer, der ihm außer Bach, Beethoven, Chopin und Liszt auch damals brandaktuelle Komponisten wie Debussy und Ravel nahebrachte. Ziemlich schnell folgte erste kleine Auftritte. Mit sechzehn wurde er schließlich zum jüngsten "Song plugger" in der "Tin Pan Alley", jenem Teil der 28. Straße von Manhattan, wo zwischen 1900 und 1930 die meisten Musikverlage ansässig waren. Diese Verlage brauchten Musiker und Sänger, die neue Lieder unter die Leute brachten, damit sich die Noten möglichst massenhaft verkauften. In dieser Zeit begann er auch, selbst Lieder zu schreiben – er war fasziniert von damals schon bekannten Songs seiner Vorläufer Irvin Berlin und Jerome Kern.
So begann eine besonders Erfolg- und folgenreiche Musik-Karriere. George Gershwin schrieb von 1924 bis 1933 eine ganze Reihe zu Klassikern gewordener Broadway-Musicals, von "Lady, Be Good" über "'Strike Up The Band" und "Girl Crazy" bis "Pardon My English". Er schrieb Klavierkonzerte wie die "Rhapsody in Blue" von 1924 und das "Concerto in F" von 1925 und so neuartige Orchesterstücke wie "An American in Paris" von 1928, das eine eigene Klangwelt erschloss – mit quirligen Rhythmen, Autohupen-Sounds und Saxophon-Klängen. "Symphonischer Jazz" wurde Musik wie diese genannt – ein Etikett, das die symphonische Eigenständigkeit der Musik nicht wirklich erfasst. Und schließlich 1935 die Krönung von Gershwins Lebenswerk, die Oper "Porgy and Bess", die in einem Schwarzen-Viertel im amerikanischen Bundesstaat South Carolina spielt.
Ira und George (r.) Gershwin in den frühen Zwanzigern | Bildquelle: © CSU Archives/Everett Collection/picture alliance
Songs aus den Musicals, zu denen Georges Bruder Ira die Liedertexte schrieb, sowie einige Stücke aus der Oper "Porgy and Bess", entwickelten später ein Eigenleben als Jazz-Standards. Viele davon gehören noch heute zum unerlässlichen Repertoire für Jazzmusiker aller Generationen. Ein Gershwin-Song wurde sogar so wichtig wie das Blues-Schema, jene zwölf Takte, auf denen unzählige Stücke aufbauen. Es heißt "I Got Rhythm", stammt aus dem Musical "Girl Crazy" von 1930 und hat eine Harmoniefolge, über der man besonders gut improvisieren kann: 32 Takte mit einem effektvollen Ablauf, vor allem beim kontrastierenden B-Teil, der über eine Kette von Dominantseptakkorden zur Tonart zurückkehrt.
In der Jazzersprache sind Akkordfolgen Changes, und die Changes von "I Got Rhythm” nennt man allgemein die "Rhythm Changes”. Die müssen Jazzmusiker im Schlaf beherrschen, und die meisten tun das auch. Viele andere berühmte Jazzstücke, von Duke Ellingtons "Cotton Tail" über Charlie Parkers "Moose The Mooche" und Sonny Rollins' "Oleo" basieren auf der Akkordfolge von "I Got Rhythm". Songs von George Gershwin gehören also zum ABC und sogar zur DNA des Jazz. Dabei hatte sein früher Lehrer Hambitzer sich einst über den Schüler echauffiert: "Er will sich unbedingt mit dem modernen Krimskrams abgeben, mit Jazz und dergleichen. Aber das lasse ich vorläufig nicht zu. Erst soll er sich gefälligst mit der seriösen Musik auskennen."
Die seriöse Musik lag Gershwin so am Herzen, dass er in den 1920er Jahren Paris sogar Unterricht bei Maurice Ravel und der großen Pädagogin und Komponistin Nadia Boulanger nehmen wollte. Beide lehnten ihn ab – weil sie sein Talent nicht vom Weg abbringen wollten. Ravels Ausspruch ist vielzitiert: "Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden, wo Sie doch ein erstklassiger Gershwin sind?" Allerdings fassten Kritiker die Werke dieses amerikanischen Neuerers gern mit spitzen Fingern an. Die Meinungen waren oft geteilt, doch es fehlte nicht an überheblichen Verrissen. Etwa der Kritiker Lawrence Gilman befand über die "Rhapsody in Blue", ihre Themen seien "gewöhnlich, schal und konventionell" und deren harmonische Bearbeitung "sentimental und langweilig". Derselbe Kritiker schrieb später über "Porgy and Bess": "Hört man so effektheischenden Mist wie das Duett zwischen Porgy und Bess, 'Bess You Is My Woman Now', so wüsste man gern, warum sich der Komponist in solche Niederungen begibt, um derart billige Erfolge einzuheimsen."
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Gershwin: Bess, you is my woman now ∙ Adina Aaron ∙ Musa Ngqungwana ∙ Andrés Orozco-Estrada
Billig waren die Erfolge George Gershwins nie. Sie entsprangen einem Ohr, das besonders sensibel für Zwischentöne war – und zwar im doppelten Sinn: für Nuancen und für Töne zwischen gewohnten Kategorien. Allein das Klarinetten-Glissando, mit dem die "Rhapsody in Blue" beginnt, gäbe ganz viel Stoff für Analysen ab: Ein tiefer Triller über dem Ton F, dann ein Sich-Hinaufwinden über zweieinhalb Oktaven bis zum hohen B – und schon ist eine Tür zu unterschiedlichen musikalischen Welten aufgestoßen, Elemente aus der jüdischen Klezmer-Musik und dem Jazz führen in eine symphonische Komposition.
Am 12. November 2023 gibt das Münchner Rundfunkorchester ein Konzert unter dem Motto "Gershwin Melodies" zusammen mit dem Thilo Wolf Jazz Quartett in der Münchner Isarphilharmonie – unter der Leitung von Enrique Ugarte. BR-KLASSIK überträgt live.
Ob George Gershwin damit gegen Formen und Konventionen aus der bis dahin bekannten klassischen Musik verstieß, ist aus heutiger Sicht völlig unerheblich. Sein Klang war unverkennbar, völlig eigenständig, und er setzte viele Impulse in die Welt, die bis heute wirken. Sein Wiegenlied "Summertime" soll laut einer Guinness-Rekord-Erwähnung von 2017, 67591 Mal aufgenommen worden sein; allerdings verzeichnete diese Zahl auch Veröffentlichungen, die auf Social-Media-Kanälen verbreitet wurden. Eine von 2005 stammende Erhebung von Plattenaufnahmen verzeichnete 1161 offizielle Veröffentlichungen. Dennoch: ein Lied, das fast jeder kennt.
Gershwin am Flügel | Bildquelle: © picture-alliance / akg-images George Gershwin starb nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Oper. Er wurde nur 38 Jahre alt. Er brach am 9. Juli 1937 während der Arbeit an einem Musikstück für den Film "The Goldwyn Follies" am Flügel zusammen, fiel ins Koma und starb zwei Tage später. Die Ursache war ein Gehirntumor. Obwohl Gershwin schon Monate vorher über heftige Kopfschmerzen geklagt hatte und im Februar 1937 bei einer Aufführung seines "Concerto in F" mit Blackouts und Koordinationsproblemen kämpfte, stellten die Ärzte diese Diagnose erst nach dem Zusammenbruch. Das Stück, an dem er zuletzt gearbeitet hatte, besaß noch keinen Text. Sein Bruder Ira vollendete es mit Worten, die auf George Gershwin gemünzt waren. "Love Is Here To Stay", heißt der Song. Die Haupt-Textzeile, die besagt, dass "unsere Liebe" eine bleibende sei, mündet in die Worte: "Not for a year / But ever and a day." Als wären sie auf die Musik eines gewissen Jacob Gershwin, genannt George, gemünzt.
Sendung: "Allegro" am 26. September ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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