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Inklusion in der Musikszene Klassik exklusiv?

Rollstuhlfahrer:innen im Symphonieorchester? Menschen mit Down-Syndrom im Konzertsaal? Studierende mit Behinderung an Musikhochschulen? All das sind Ausnahmeerscheinungen. Denn obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention ein Recht auf kulturelle Teilhabe festschreibt, sind Menschen mit Behinderungen immer noch ausgegrenzt.

Mann mit Down Syndrom spielt Geige | Bildquelle: picture alliance / Bildagentur-online/Tetra Images

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Musik gilt als Kunst, die alle verbindet. Dabei werden viele Menschen vergessen. Rund 13,5 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung leben in Deutschland. Sie stoßen auf haufenweise Barrieren. Inklusion ist noch Kür an deutschen Konzert- und Opernhäusern oder Ausbildungsstätten – keine Pflicht.

Die Sängerin Gerlinde Sämann | Bildquelle: Severin Schweiger Die Sopranistin Gerlinde Sämann ist blind. | Bildquelle: Severin Schweiger Dazu kommt, dass das Wort "Inklusion" an sich schon ein problematischer Begriff ist. Die blinde Sängerin Gerlinde Sämann erklärt, warum: "Du kannst Dich nicht inkludieren. Du wirst inkludiert." Menschen ohne Behinderung gewähren Menschen mit Behinderung Zugang zu "ihrer Welt". Hier sei ein Paradigmenwechsel gefragt, findet Robert Wagner,  Vorsitzender des Bundesfachausschusses "Inklusion" im Verband deutscher Musikschulen: "Jeder Mensch gehört dazu, weil er da ist."

Ich finde den Begriff 'Inklusion' richtig ätzend. Du kannst Dich nicht inkludieren. Du wirst inkludiert.
Gerlinde Sämann, Sängerin

Kulturelle Teilhabe sieht auch die UN-Behindertenrechtskonvention vor, 2009 vom Deutschen Bundestag unterzeichnet. Das heißt konkret: Behinderte Menschen haben dieselben Ausbildungsmöglichkeiten, können ungehindert kulturelle Veranstaltungen besuchen und selbst aktiv ihre Kunst ausüben. Der Realitäts-Check offenbart: Wir sind weit davon entfernt. "Wir schmeißen Leute aus der Gesellschaft raus und setzen uns dann an den Tisch und sagen: Wie kriegen wir die denn wieder zurück?", kritisiert der Hornist Felix Klieser.

Die Verantwortung der Musikschulen

Startpunkt für die meisten Musikfans ist die Musikschule. Hier werden Talente entdeckt und gefördert. Gleichzeitig ist Raum fürs ungezwungene Zusammenspiel, einfach weil's Spaß macht. Wie ein Blick auf die deutsche Musikschullandschaft zeigt, beginnt hier bereits die Ausgrenzung. Erst die Hälfte aller 930 öffentlichen Musikschulen in Deutschland bietet musikalische Angebote für Menschen mit Behinderung an. Aber es tut sich was, auch durch Fortbildungsangebote für Lehrkräfte. Im Lehrgang "Blimbam" beispielsweise wird auf die inklusive Arbeit an Musikschulen vorbereitet. Außerdem formieren sich an vielen Musikschulen inklusive Ensembles. Dazu kommen Festivals mit Auftrittsmöglichkeiten wie das "Inklusive Soundfestival Fürth" oder das "Trio"-Festival im Dreiländereck Deutschland, Österreich, Schweiz.

Utopia Orchester | Bildquelle: Sandra Wereli Das Utopia Orchester in Berlin vereint Menschen mit und ohne Behinderung. | Bildquelle: Sandra Wereli Auch das Utopia Orchester des Trägers "Verein Kultur Leben Berlin" vereint Menschen mit und ohne Behinderung. Es ist das einzige inklusive Laien-Symphonieorchester bundesweit. Dirigent Mariano Domingo ist begeistert von seinem Projekt, in dem jede und jeder mitspielen kann, der Interesse hat, Profis wie Laien. Allerdings begegnet er vielen Hürden. So ist es schwierig, einen barrierefreien Proberaum oder Auftrittsmöglichkeiten für ein Ensemble mit mehreren Rollstuhlfahrer:innen zu finden. Trotzdem bleibt das Utopia Orchester am Ball und gibt regelmäßig Konzerte – auf Einladung auch gerne außerhalb Berlins.

Einen Proberaum zu finden, der keine Treppe hat, ist eine unglaubliche Herausforderung.
Mariano Domingo, Leiter Utopia Orchester, Berlin

Elite statt Inklusion: die Musikhochschulen

Felix Klieser Hornist | Bildquelle: Maike Helbig /Edel Kultur Benachteiligen die Auswahlverfahren an Musikhochschulen Menschen mit Behinderungen? Ja, findet Hornist Felix Klieser. | Bildquelle: Maike Helbig /Edel Kultur Besonders an den Musikhochschulen sind die Bedingungen für Menschen mit Behinderung schwierig. Zwar hat sich die Rektorenkonferenz 2003 dazu bekannt, die Hochschulen inklusiver zu gestalten, aber noch gibt es kaum Studierende mit Behinderung. Woran liegt das? Thomas Grosse, Rektor der Musikhochschule Detmold, benennt als Gründe das Fehlen baulicher und digitaler Barrierefreiheit. Es brauche mehr fachlichen Austausch, Nachteilsausgleich und eine veränderte Hochschuldidaktik. Vor allem Offenheit für neue Wege. Auch die Auswahlverfahren müssten auf den Prüfstand gestellt werden. Die Entscheidung, ob jemand aufgenommen wird oder nicht, hängt oft von Einzelpersonen ab, die möglicherweise aus Bequemlichkeit, Angst oder Vorurteilen die Aufnahme eines behinderten Menschen ablehnen. "Das ist weit davon entfernt, gerecht oder korrekt zu sein", sagt Hornist Felix Klieser über die Aufnahmeverfahren an den Musikhochschulen.

Mit dem Rollstuhl im Orchester

Warum sieht man eigentlich so gut wie nie Rollstuhlfahrer auf einer Orchesterbühne? Wir haben bei Musikschulen, Hochschulen, Musikern und Orchestern nachgefragt. Lesen Sie hier den Artikel.

Musiktheater für seh- und hörbeeinträchtigte Menschen

Das Staatstheater Augsburg hat eine Vorreiterrolle eingenommen in Sachen Inklusion. Anders als andere Häuser, die inklusive Angebote als "Luxus" betrachten, der abhängig von Fördergeldern ist, haben die Augsburger unter ihrem Intendanten André Bücker ein festes Budget dafür eingeplant. Für blinde und sehbehinderte Menschen bietet das Staatstheater Tasteinführungen und Audiodeskription an – da erklärt eine Stimme über Kopfhörer die Bühnenvorgänge. Für Hörgeschädigte und Gehörlose gibt es Gebärdeneinführungen und Übertitelung mit Kommentaren zur Musik. Außerdem ist geplant, vermehrt Künstler:innen mit Behinderung zu engagieren. David Ortmann, leitender Regisseur am Haus, fordert klare Richtlinien von der Politik, damit die Angebote nicht einzig und allein vom Goodwill abhängen.

Die Häuser bräuchten einen Behindertenbeirat oder einen Beirat über Diversität.
David Ortmann, Leitender Regisseur am Staatstheater Augsburg

Künstler*innen mit Behinderung on stage

Schauspieler:innen und Sänger:innen mit Downsyndrom bei einem Projekt der Münchner Symphoniker. | Bildquelle: privat Dirigent Joseph Bastian (2. v.l.) sowie Schauspieler:innen und Sänger:innen mit Down Syndrom bei einem Projekt der Münchner Symphoniker. | Bildquelle: privat Erste Schritte in Richtung Inklusion sind auch die Münchner Symphoniker gegangen. Sie haben ein Konzert zum Welt-Down-Syndrom-Tag veranstaltet – in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen. Dort sind Schauspieler:innen und Sänger:innen mit Downsyndrom zusammen mit dem Orchester aufgetreten und haben Songs ihrer Wahl gesungen sowie teilweise selbst geschriebene Texte vorgetragen. Chefdirigent Joseph Bastian hat vor, das Angebot auszuweiten, in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für inklusive Pädagogik an der LMU München. Bastian hofft, andere Ensembles damit anzustacheln, selbst aktiv zu werden, denn in München gibt es bisher wenig Angebot seitens der großen Klangkörper. "Das sind Zustände, die sind heutzutage nicht tragbar", so der Dirigent.

"Relaxed performances"

Schick anziehen, stillsitzen, keinen Ton von sich geben. Die Konzertrituale taugen nicht für alle. Die "relaxed performances" bieten einen neuen Raum: Konzerte in entspannter Atmosphäre, ursprünglich entwickelt für autistische Menschen, die nicht so lange wie angewurzelt an einem Platz sitzen können. Die "relaxed performances" erlauben, was sonst ein No-Go ist: liegen, sitzen, stehen, sich bewegen, rein- und rausgehen. Diese neu gewonnene Freiheit genießen auch Menschen ohne Behinderung. Im englischen Sprachraum sind die "relaxed performances" bereits verbreitet, und auch hierzulande sind erste Ansätze erkennbar. Inzwischen denken selbst große Konzerthäuser darüber nach, wie sie zum Beispiel Kindern gerecht werden, die in ihrer Begeisterung im Konzertsaal gerne mitsingen oder tanzen, während sie klassischer Musik lauschen.

Musik für Gehörlose: Feel the music!

Hörgeschädigtes Mädchen beim Projekt "Feel the music" des Mahler Chamber Orchestras | Bildquelle: Mahler Chamber Orchestra Ein hörgeschädigtes Mädchen beim Projekt "Feel the music" des Mahler Chamber Orchestra. | Bildquelle: Mahler Chamber Orchestra Musik ohne Hören? Geht! Das zeigt ein Projekt des Mahler Chamber Orchestra mit dem Namen "Feel the music". Es führt hörgeschädigte und gehörlose Kinder und Jugendliche an Musik heran – mit Workshops, Probenbesuchen und der Möglichkeit, die Instrumente der Musiker:innen zu ertasten und selbst auszuprobieren. Geleitet wird das Projekt von Valentina Georgoulopoulos in Zusammenarbeit mit dem britischen, gehörlosen Musiker Paul Whitakker, der mehrere Gebärdenchöre leitet und die Organisation "Music and the deaf" gegründet hat. Kinder erleben bei "Feel the music" Musik jenseits des Hörens: durch Spüren, Sehen, Kommunizieren. Manche sind so begeistert, dass sie nach dem Projekt ein Instrument lernen – trotz Hörbeeinträchtigung. "Wir möchten gehörlose Kinder empowern, sich in die Musikwelt hineinzuwagen", erklärt Valentina Georgoulopoulos. Und Stefan Faludi, Cellist im Mahler Chamber Orchestra und bei "Feel the music" aktiv, fügt hinzu: "Wir lernen durch das Projekt: Das Hören ist nur ein Teil von Musik."

Quo vadis, Klassik?

Die Klassikwelt muss sich für Menschen mit Beeinträchtigungen öffnen. Die Forderungen stehen im Raum: gezieltes Bildungsangebot an den Musikschulen und Hochschulen. Verpflichtende Angebote der Staatstheater und privaten Veranstalter:innen. Neue Konzertformate. Mehr Engagements von behinderten Menschen in Chören, Orchestern und Theatern. Quoten. Zusammenarbeit mit Betroffenen im Arbeitsfeld Inklusion. Digitale und bauliche Barrierefreiheit. Zuallererst aber heißt es: Barrieren abbauen im Kopf. Fragen statt urteilen, aufeinander zugehen, Empowerment, gemeinsame Sache machen.

"Wir müssen Verbündete sein. Es kann nicht sein, dass nur Menschen mit Behinderungen gegen diese Hürden anlaufen und wir uns raushalten", sagt David Ortmann, Leitender Regisseur am Staatstheater Augsburg. Es steht an, die Bereicherung anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderung die Welt der Nicht-Behinderten mit neuen Perspektiven beschenken. Mit ihrer Kunst. Mit ihrer Art, Musik zu erleben und zu spielen. Sie weiten den Blick. Und helfen uns, unsere eigene Behinderung zu überwinden.

Es ist unsere Behinderung, dass wir nicht wissen, wie man mit behinderten Menschen umgeht.
Joseph Bastian, Chefdirigent Münchner Symphoniker

Sendung: "KlassikPlus - Das Musikfeature" am 14. Juni 2024 ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK. Wiederholung am 15. Juni 2024 ab 14:05 Uhr

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Sonntag, 16.Juni, 07:20 Uhr

Thomas Bernauer

Inklusion in der Musikszene

Zu Beginn steht: "Rund 13,5 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung leben in Deutschland." Schlüsseln Sie diese Menge doch bitte erst einmal auf, bevor es zum Thema kommt.

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