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Ivo Pogorelich im Interview "Etwas Wertvolles geht gerade verloren"

Ein wenig melancholisch blickt der große Pianist Ivo Pogorelich derzeit auf die Welt. Warum er trotzdem Dankbarkeit empfindet und welcher Lebensbrunnen in Rachmaninows Musik liegt, erzählt er im BR-KLASSIK-Interview.

Ivo Pogorelich | Bildquelle: Malcolm Crowthers

Bildquelle: Malcolm Crowthers

BR-KLASSIK: Es ist eine große Freude mit Ihnen zu sprechen, Herr Pogorelich. Ihre Aufnahmen haben mich und wohl auch viele andere junge Musikstudierende geprägt.

Ivo Pogorelich: Oh, ich wünschte, mehr Menschen würden Musik studieren, wirklich. Denn in der heutigen Welt leben wir mit so vielen schlechten Informationen, es ist wirklich wie eine Lawine. Und eine Person, die am Klavier sitzt und spielt, ist ein Bild, das im völligen Kontrast zur heutigen lauten und geschäftigen Welt steht. Ich denke, dass es für Gesellschaften, besonders in Europa, gut wäre, mehr in die Verbreitung von Musik zu investieren.

BR-KLASSIK: Hat in einer weniger schnellen Welt die Musik und vor allem auch das Selbstmusizieren einen anderen Platz?

Ivo Pogorelich: Ja. Und ich weiß sehr gut, dass es in der deutschen Kultur im 19. Jahrhundert zum Beispiel so etwas wie Sonntagsmittagessen gab, und danach versammelten sich Familie und Gäste und spielten und sangen. Das wäre eine fantastische Gelegenheit für Menschen, sich in einer solchen Atmosphäre zu amüsieren. 'Gemütlich', sagen Sie auf Deutsch dazu, richtig?

In der kalten technischen Entwicklung geht etwas Wertvolles zwischen den Menschen verloren.
Ivo Pogorelich

BR-KLASSIK: Ja, gemütlich. Das ist ein sehr wichtiges Wort.

Ivo Pogorelich: Solche Situationen gibt es heute nicht mehr auf der Welt. Nichts ist mehr gemütlich. Man kann nicht irgendwo in der Stadt auf einen kleinen Platz gehen und sich auf eine Bank setzen. Es gibt sehr wenige Orte auf der Welt, wo man das jetzt tun kann und wo es sogar sicher ist, es zu tun. Und wenn man zu einem kleineren Ort geht, dann hat man das Gefühl, dass solche Orte verlassen sind. Darüber empfinde ich großes Bedauern.

Blickt wehmütig zurück: Ivo Pogorelich

BR-KLASSIK: Wie blicken Sie da auf die heutige Jugend?

Ivo Pogorelich: Ich denke, dass junge Menschen, die jetzt mit 18 Jahren volljährig werden, die Welt nie so erlebt haben wie ich, als ich 20 Jahre alt war. Das macht mich sehr traurig. Denn auf der einen Seite gibt es eine solche kalte technische Entwicklung, gleichzeitig geht aber etwas Wertvolles zwischen den Menschen verloren. Da gibt es einen Mangel, und Musik ist ein Teil davon.

BR-KLASSIK: Wie meinen Sie das? Musik gibt es ja weiterhin. Es gibt Konzerte, es gibt Aufnahmen.

Ivo Pogorelich: Ich spreche nicht von Aufführungen und Konzertsälen, wo Menschen hingehen und ein schönes Kleid anziehen und es eine festliche Atmosphäre und ein Orchester gibt und all das ... Ich spreche von Musik als intimen Teil des Lebens der Menschen. Und zwar nicht nur einer Person, sondern einer Gruppe von Menschen. Das ist völlig verloren gegangen, und es ist völlig weg, was ein großes Bedauern ist.

Ivo Pogorelich über die Bedeutung von Musik in der modernen Gesellschaft

BR-KLASSIK: Sie treten jetzt in München auf. Im Konzert. Was sehen Sie im Moment als Ihre Aufgabe als Konzertpianist, angesichts all der Entwicklungen, die Sie eben beschrieben haben?

Ivo Pogorelich: Nun, ich habe keine Ahnung. Sehen Sie, als ich das erste Mal in München auftrat, war Ihr Land in zwei Teile geteilt. Es gab die Bundesrepublik Deutschland und es gab die DDR. Und damals war München ein Zentrum in Westdeutschland, in dem Klaviermusik geschätzt wurde. Berlin war berühmt für die Berliner Philharmoniker, und Hamburg war berühmt für seine Opernaufführungen und das Sprechtheater. So gab es eine sehr, sehr konkrete Differenzierung zu dieser Zeit. Ich erinnere mich sehr gut daran, aber ich spreche von einer Periode, die fast 50 Jahre umfasst.

Ich muss immer noch meine Finger bewegen, ich muss üben und ich muss etwas anbieten oder den Menschen etwas geben.
Ivo Pogorelich

BR-KLASSIK: Und jetzt, was denken Sie, ist Ihre Aufgabe als Konzertpianist?

Ivo Pogorelich: Eigentlich das gleiche, obwohl sich die Stadt inzwischen verändert hat. Das Musikleben ist viel größer geworden, die Stadt hat viel mehr Einwohner. Und natürlich spiegelt sich das auch in der Atmosphäre wider. Meine Idee ist, dass ich durch meine Aufführung den Menschen etwas bringe und gebe. Einerseits mein Verständnis von Musik, aber auch ein Teil meines Herzens. Das ist das, was wir Künstler tun. Und deshalb kommen die Menschen. Das ändert sich nicht. Als ich das erste Mal in München auftrat, war ich etwa 23. Jetzt, 45 Jahre später, bin ich in einer völlig anderen Altersgruppe. Aber ich muss immer noch meine Finger bewegen, ich muss üben und ich muss etwas anbieten oder den Menschen etwas geben.

Herausforderungen und Aufgaben eines Konzertpianisten in Zeiten des Wandels

BR-KLASSIK: Im Moment leben wir in besonderen Zeiten. Wir haben Krisen, wir haben Kriege. Wie beeinflusst Sie das als Künstler?

Ivo Pogorelich: Nun, als Künstler nicht. Aber als Mensch natürlich. All dieses Leiden, das es in der Welt gibt, das sind ja nicht nur Kriege, es gibt viele, viele Formen von unangenehmen Dingen für Menschen, die jetzt auf der ganzen Welt passieren. Es hat auch mit der sogenannten technologischen Revolution und der Fülle an Nachrichten zu tun. Ich denke, die meisten Menschen, einschließlich mir selbst, verlieren manchmal die Orientierung. Die Menschheit hat es nie geschafft, diese Menge an Leid zu reduzieren. Das ist ein großes Problem. Natürlich sind Künstler immer Idealisten und wir denken, dass Technologie genutzt werden kann, um die menschliche Gesundheit zu verbessern und das Leben der Menschen im Allgemeinen zu verbessern. Als ich ein Kind war, gab es immer Gespräche über den Frieden und die Leute sagten, es ist in Ordnung, solange es keinen Krieg gibt und so weiter, aber irgendwie können Menschen das nicht vermeiden und ich bedaure das sehr.

BR-KLASSIK: Und wo finden Sie Ihre innere Orientierung, Ihren inneren Kompass?

Ivo Pogorelich nach einem Konzert in Kroatien 2025. | Bildquelle: picture alliance / PIXSELL | Davor Puklavec/PIXSELL Ivo Pogorelich nach einem Konzert in Kroatien 2015. | Bildquelle: picture alliance / PIXSELL | Davor Puklavec/PIXSELL Ivo Pogorelich: Nun, ich muss dem folgen, wofür ich hier bin und was meine Rolle hier ist. Dafür muss ich mich in guter körperlicher Verfassung halten, weil ein Teil meiner Arbeit körperlich ist. Also muss ich auf mich selbst achten und ich muss in einer Art strenger Disziplin leben. Ich habe keine große Wahl, Dinge zu tun. Ich kann nicht in die Berge gehen und mich plötzlich in der Rolle eines Bergsteigers finden. Es gibt viele Einschränkungen. Viele Dinge, über die ich gerne nachdenke oder die ich gerne tun würde, sind mir begrenzt, weil ich auf meine körperliche Verfassung und meinen Körper achten muss. Und so gibt es das Klavier, es gibt die Musik und es gibt diese kleine Welt. Wenn ich diese kleine Welt verlasse, gehe ich zum Flughafen und danach finde ich mich in der großen Welt wieder. Das ist alles.

BR-KLASSIK: Und was bereichert Ihr Leben?

Ivo Pogorelich: Das verändert sich. Wenn man jung ist, liegt ein Teil der Fülle in den Erwartungen. Wenn man älter wird, dann gehören zur Erfüllung auch die Erfahrungen und die Erinnerungen an die Dinge, die man schon getan hat. Das ist eine Art Alterspendel, das sich zwischen den Altersstufen bewegt, würde ich sagen.

Rachmaninows zweites Klavierkonzert: Pogorelichs Interpretation und Ansatz

BR-KLASSIK: Dann mal zur Musik, die ja auch für viele eine Bereicherung ist. In München spielen Sie jetzt das Zweite Klavierkonzert von Rachmaninow. Können Sie als Interpret einen Ansatz finden, der weg geht von der spätromantischen großen Geste und der Melancholie, die Rachmaninow immer zugeschrieben wird?

Ivo Pogorelich: Ich denke, es gibt einen riesigen Lebensbrunnen in seiner Musik. Es ist wie ein Strom, wie etwas, das mit der Kraft der Natur verglichen werden kann, aber es kommt von einem einzelnen Individuum. Das ist überraschend, diese enorme Energie und das Potenzial, das sowohl in den lyrischen Teilen seiner Musik als auch in den festlicheren und leidenschaftlicheren Teilen vorhanden ist. Er ist einer dieser Komponisten wie Beethoven, die auch dem Interpreten sehr viel zurückgeben. Die Interaktion mit dem Orchester ist ebenfalls interessant. Dieses Konzert ist einfach ein besonderes Stück: absolut überraschend und geheimnisvoll, sehr symphonisch. Da ist viel, was man damit geben kann, aber auch viel, was man zurückbekommen kann.

Ivo Pogorelich live

Am 19. März tritt Ivo Pogorelich mit dem Jerusalem Symphony Orchestra unter der Leitung von Julian Rachlin in der Münchner Isarphilharmonie auf. Auf dem Programm stehen neben Rachmaninows Zweitem Klavierkonzert auch die Ouvertüre zu "Ruslan und Ludmilla" von Glinka und Brahms' Vierte Symphonie.

Ich bin sehr glücklich, dass ich diesen Beruf habe.
Ivo Pogorelich

BR-KLASSIK: Die Musik gibt Ihnen also immer noch viel?

Ivo Pogorelich: Obwohl es sehr hart ist und obwohl es ein Beruf ist, der dem Individuum wirklich viel abverlangt, bin ich sehr glücklich, dass ich diesen Beruf habe. Ich bin sehr glücklich, dass ich zusammen mit meinen Kollegen einer der Menschen bin, die tatsächlich in Form einer öffentlichen Aufführung oder einer Aufnahme Menschen berühren und sie zum Nachdenken anregen und auch ihre Herzen erwärmen können. Und ich denke, es ist eine große Verantwortung auf der einen Seite, aber auch ein großes Privileg.

Sendung: "Leporello" am 12. März 2025 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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