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Max Richter im Interview "Natur ist für mich ein positiver Ausgleich"

Mensch und Natur im Einklang: Auf seinem neuen Album "In A Landscape" verbindet Max Richter natürliche mit elektronischen Klängen. Inspirieren ließ sich der Komponist dabei von der Landschaft vor seinem Studio in Oxfordshire.

Der Komponist Max Richter | Bildquelle: Mike Terry

Bildquelle: Mike Terry

BR-KLASSIK: Max Richter, viele empfinden Ihre Musik als entschleunigend. Ist das Ihre Absicht? Wollen Sie entschleunigen?

Max Richter: Musik gibt es ja aus vielen verschiedenen Gründen. Manchmal hat Musik einen expliziten Nutzen, beispielsweise Tanzmusik, Musik zum Heiraten, Musik zum Sterben, Kriegsmusik oder Liebeslieder. Musik kann also viele Dinge tun. Sie kann unter anderem einen Raum in unserem Leben schaffen, in dem wir über andere Dinge nachdenken können. Das tun einige meiner Stücke. "Sleep" ist ein solches Stück oder auch "Voices". Es gibt ein Thema, es geht um etwas.

Mein neues Projekt "In A Landscape" hat mit der Idee zu tun, Dinge zu versöhnen, die in gewisser Weise polarisiert sind, die unvereinbar scheinen. Die Musik modelliert etwas, das meiner Meinung nach in der Gesellschaft wünschenswert ist. Mit anderen Worten: Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten sind in der Lage, eine Einigung zu finden, anstatt sich nur anzuschreien und nicht zuzuhören. Wir leben in einer sehr polarisierten Zeit, und ich denke, da kann uns Kreativität helfen.

Wir leben in einer sehr polarisierten Zeit, und ich denke, da kann uns Kreativität helfen.
Max Richter

Max Richter sieht seine Kompositionen als Teil eines Gespächs

BR-KLASSIK: Nehmen wir mal eine typisch hektische Situation: Man steht im Supermarkt an der Kasse. Es piepst, es ist laut, man ist gestresst, man muss seine Einkäufe schnell einsammeln. Hätten Sie in einer solchen Situation dann Kopfhörer auf und hören beispielsweise "In A Landscape"?

Der Komponist Max Richter | Bildquelle: Mike Terry Max Richter lebt mit seiner Familie in Oxfordshire, wo er auch ein Studio eingerichtet hat. | Bildquelle: Mike Terry Max Richter: (lacht) Ich höre eigentlich nicht so oft mit Kopfhörern. Nur manchmal, wenn ich auf Reisen bin. Ich habe gerade ein Buch von John Cage gelesen. Seine Einstellung zum Klang ist die, dass es kein Gut oder Schlecht gibt. Jeder Klang ist interessant. Er ist Teil der Welt, in der wir leben.

Es hat viel mit der Einstellung zu tun, die wir den Dingen entgegenbringen. Vor einigen Jahren habe ich einer großen Supermarktkette hier in Großbritannien einen Vorschlag gemacht. Sie haben alle diese Pieptöne an den Kassen. Das ist wie eine Komposition. Ich wollte diese Pieptöne choreografieren und sie in etwas Musikalisches verwandeln, das großartig ist. Aber die Supermärkte haben sich natürlich nicht für meine Idee begeistert. Ich mag sie immer noch sehr.

Ich denke, dass die meisten Künstler das Werk erschaffen, das sie gerne erleben würden, wenn jemand anderes es gemacht hätte. Mit anderen Worten: Wenn es noch nicht in der Welt ist, macht man es, damit man es erleben kann. Aber für mich ist noch wichtiger: Ich sehe meine Arbeit als Teil eines Gesprächs. Sie ist eine Frage oder ein Vorschlag. Man bekommt eine Menge interessanter Informationen vom Publikum zurück. Das Publikum bringt seine individuelle Biografie in das Stück ein. Wir haben ja alle unsere eigene Lebensgeschichte mit all der Musik, die wir gehört haben. So entsteht ein wirklich interessanter Gesprächsprozess. Das fasziniert mich.  

Vor Max Richters Studio liegt der Wald

BR-KLASSIK: Das Studio, in dem Sie arbeiten, liegt ja idyllisch im Grünen. Wenn Sie auf der einen Seite Hightech haben und dann aus dem Fenster in die Natur schauen: Gibt es dieses Innen und Außen für Sie?

Max Richter: Ja. Das kommt in gewisser Weise auch im Stück "In A Landscape" zum Ausdruck. Man kann den Titel auf zwei Arten verstehen: als Bezug auf die äußere Landschaft, aber auch auf die innere Landschaft, die wir in uns tragen.

BR-KLASSIK: Sie sitzen gerade in Ihrem Studio. Dort gibt es einen Flügel, einen Parkettboden, viele Bücher. Alles Gegenstände, die aus Holz gefertigt sind. Sie haben den Wald also nicht nur draußen vor dem Fenster, sondern quasi auch hinter sich, nur in einem anderen Stadium.

Max Richter: Richtig. Wir haben all diese Technik hier und befinden uns doch mitten im Wald. Das ist für mich ein positiver Ausgleich. Mein Leben, und das von vielen von uns, ist sehr stark mit der Technologie verbunden. Wir haben es mit abstrakten Materialien zu tun, mit viel Kopfarbeit, mit strategischem Denken. Es gibt mir viel, einen ausgleichenden Fokus zu haben. Diese größeren Zyklen wahrzunehmen, Dinge draußen in der Natur, denen es egal ist, ob wir hier sind oder nicht. Sie gehen einfach weiter. Es ist gesund, Natur in der Nähe zu haben.

Die Natur ist für mich ein positiver Ausgleich.
Max Richter

BR-KLASSIK: Skandinavisches Design würde dem sicherlich auch entsprechen. Materialien aus der Natur, dezente Farben, zurückhaltende Formen…

Max Richter: Genau. Ökologische Sensibilität und Minimalismus gehen Hand in Hand. Es geht darum, das Maximum aus dem Minimum herauszuholen. Das ist ein schöpferisches Prinzip, an dem ich auf jeden Fall interessiert bin.

BR-KLASSIK: Man unterfüttert dieses Minimum mit dem Maximum, das aus dem Inneren kommt?

Max Richter: Ja. Wir alle tragen eine Menge intellektuelles Gepäck mit uns herum: Ideen, Worte und Konzepte. Jedes Stück beginnt in gewisser Weise mit einer Reihe von Ideen. Aber an einem bestimmten Punkt, und das gilt auch für mich persönlich, muss ich alles über Bord werfen und mich einfach auf die Eigenschaften des Materials einlassen. Man macht etwas, und dann beginnt das Material, einen eigenen Charakter zu haben. Romanautoren sprechen oft davon, dass ihre Figuren anfangen, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Autoren nicht erwartet haben. Bei einem musikalischen Projekt ist es ähnlich: Das Material entwickelt eine eigene Intention. Man selbst muss zur Seite treten und sehen, wohin das Material gehen will.

Max Richter: Zeitgenössische Musik muss nicht atonal sein

BR-KLASSIK: Sie haben ja auch deutsche Wurzeln. In der deutschen Klassikszene hat die "ernste" zeitgenössische Musik einen hohen Stellenwert, auch wenn sie einem beim Hören manchmal wehtut oder es sich in einem sträubt. Warum tut sich zeitgenössische Musik, die leichter und emotionaler ist, in Deutschland so schwer?

Der Komponist Max Richter | Bildquelle: Mike Terry Max Richter komponiert gern tonal. Für ihn ist Musik ein Mittel, um mit Menschen zu kommunizieren. | Bildquelle: Mike Terry Max Richter: Das hat mit der Musikgeschichte zu tun und mit Annahmen darüber, was Musik im Grunde ist. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die harmonische Sprache dichter, komplexer, dissonanter. Es gab eine Art gefühlter historischer Unvermeidlichkeit, wie sich Musik entwickelte. Welche Musik einen kulturellen Wert hatte, darüber gab es lange Zeit keinen Streit. Es wurde einfach angenommen: Weil Boulez, weil Schönberg, weil Beethovens so und so klingt, muss Musik so sein. Als ich in den 1980er Jahren studierte, war man quasi ein "Idiot", wenn man tonale Musik schrieb.

Dann habe ich beim Komponisten Luciano Berio in Florenz studiert. Ich schrieb zu der Zeit superkomplexe Musik im Xenakis-Stil, sehr, sehr dicht. Und Berio stellte mir ein paar wirklich grundlegende Fragen: Was bedeutet es für dich, ein Künstler in der Welt zu sein? Was versuchst du zu tun? Warum diese Noten? Er hat das sehr stark mit meinem persönlichen Leben verbunden. Und ich hatte das Gefühl, dass Musik für mich ein Weg ist, um zu kommunizieren. Sie ist ein Weg, um mit den Menschen über Dinge zu sprechen, die mir wichtig sind. Ich kam zu dem Schluss: Wenn ich mit den Menschen sprechen will, muss ich mich verständlich und viel direkter ausdrücken. Das führte mich zur Tonalität. Sie ist kein künstliches Konstrukt, sondern im Wesentlichen eine kulturelle Ausarbeitung eines physikalischen Prinzips. Sie ist Teil des gesamten Universums.

Zu dieser Zeit begannen die Minimalisten, sich Gehör zu verschaffen. Es schien also auch einen anderen Weg zu geben als das Post-Boulez-Modell. Für mich war das sehr attraktiv.

Wenn ich mit den Menschen sprechen will, muss ich mich verständlich ausdrücken. Das führte mich zur Tonalität.
Max Richter

Natürliche und elektronische Klänge auf Album "In A Landscape"

BR-KLASSIK: Im ersten Stück von "In A Landscape" zeigen Sie das Material wie ein Bildhauer, der einen Marmorklotz präsentiert, mit dem er später arbeitet. Kann man das so sagen?

Max Richter: Ja. Ich habe mich mit diesem Stück selbst ein wenig herausgefordert. Es ist um ein ganz grundlegendes Motiv herum aufgebaut: die fallende Tonleiter. Diese Idee der fallenden Tonleiter erforschen Komponisten seit Jahrhunderten. Ich wollte einfach ein bisschen tiefer gehen, um zu sehen, was ich mit den relativ begrenzten Mitteln machen kann. Ich verwende nur Solostreicher, eine Hammond-Orgel und ein bisschen Elektronik.

Die letzten Projekte, "Voices" oder "Recomposed", waren wirklich groß angelegte Projekte mit großem Orchester. Mit diesem Projekt wollte ich mich wieder auf die Noten selbst konzentrieren und nicht auf eine große koloristische Leinwand. Ich wollte, dass sich die Platte wie ein ruhiges persönliches Gespräch zwischen zwei Menschen anfühlt, die sich gut kennen.

Sendung: "Leporello" am 20. September 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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