Countertenor, Breakdancer, Influencer, Luxusmarkenmodel – Jakub Józef Orliński bringt scheinbar Gegensätzliches mit Leichtigkeit zusammen und ist dabei in jedem Bereich sehr erfolgreich. Bei den Münchner Opernfestspielen steht er jetzt in Händels "Semele" auf der Bühne. Im BR-Klassik-Interview erzählt er, warum Barockopern wie Telenovelas sind und warum Claus Guths psychologische Inszenierung eine große Spielwiese für ihn ist.
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BR-KLASSIK: Sie haben mal gesagt, Barockopern sind wie brasilianische Seifenopern – diese Oper nach Art eines Oratoriums auch?
Jakub Józef Orliński: Ja, ich glaube, das ist ein bisschen wie eine brasilianische Telenovela, weil es so viel Drama gibt, so viel passiert und die Handlung voll überraschender Wendungen ist. Das macht wirklich Spaß. Man sieht eine Oper, und ich meine nicht nur "Semele", und man denkt die ganze Zeit ‚Was? Was? Wie?‘. Also es ist wirklich spannend.
BR-KLASSIK: Man kann sich "Semele" ganz unterschiedlich nähern. Für die einen geht es um Demut vor dem Göttlichen, für die anderen um Fairness gegenüber denen, mit denen man in Beziehung lebt. Für wieder andere geht es um Fremdbestimmung. Wie erleben Sie die Deutung von Claus Guth?
Händels "Semele" inszeniert von Claus Guth bei den Münchner Opernfestspielen | Bildquelle: Monika Rittershaus Jakub Józef Orliński: Ja, das Stück ist wirklich interessant, weil es eben so viele unterschiedliche Bedeutungsebenen und Interpretationsmöglichkeiten hat. Weil man es so inszenieren kann, dass es eine neue Bedeutung bekommt oder so, dass es zwar für die Darstellenden die eine Geschichte erzählt, aber für das Publikum etwas ganz Anderes. Und das liebe ich einfach, wenn die Menschen durch eine Theaterproduktion was Neues lernen können. Das Faszinierende an dieser Inszenierung ist, dass sie so viel über die Entwicklung der Charaktere erzählt. Es wäre einfach, die Charaktere so zu erzählen, wie sie auf dem Papier stehen. Aber etwas zu finden, das tiefer und weiter geht, ist oft hart. Und ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: Ich finde, dass es Claus gelingt, den Charakteren und ihrem Handeln so viel Sinn zu verleihen, dass jede ihrer Verhaltensweisen motiviert ist, dass alles, was sie tun, einen Grund hat. Und das ist wirklich großartig. Damit hat er für uns eine schöne, große Spielwiese geschaffen.
BR-KLASSIK: Und für Sie persönlich, worum geht’s da?
Jakub Józef Orliński: Im Allgemeinen um Liebe. Um Liebe und darum, was die Leute der Liebe wegen tun. Um Sehnsucht und Verzweiflung. Alles sehr extrem.
Lesen Sie ein ausführliches Interview mit Regisseur Claus Guth zu "Semele".
BR-KLASSIK: In dieser ganzen Geschichte, wo steht da eigentlich Ihr Charakter Athamas? Ist er nur der Katalysator, der die Handlung durch die geplante Heirat anstößt, aber eigentlich passiver Spielball bleibt? Handelt er oder wird er behandelt?
Jakub Józef Orliński: Klar reagiert er auf vieles, aber er agiert auch, er wird behandelt, aber ist definitiv auch Handelnder. Claus hat allen Charakteren mehr Hintergrund gegeben. Es ist ja nicht so, dass Semele Athamas einfach nicht will, sondern sie liebt ihn schlichtweg nicht. Von Anfang an ist klar: es geht eigentlich um eine Zwangsehe. In dieser Welt muss man heiraten. In diesem Oratorium aber ist es so, dass Semele nach etwas Anderem sucht. Sie will mehr, als nur irgendeinen Prinzen, der kommt, der perfekt scheint und dann wird schon alles fantastisch. So von wegen, da ist die eine Familie und die andere und zack, dann kommt zusammen was zusammengehört und fertig. Nein, sie braucht und sie will mehr. Und obwohl ich, also Athamas, sie sehe und in sie verliebt bin, ist da ja immer noch ihre Schwester. Im Libretto heiratet Athamas am Ende die Schwester, denn das sind die Regeln der Zwangsehe. Aber wie erzählt man jetzt diese Geschichte, ohne, dass die irgendwie blöd ist?
Und das ist das, was in dieser Inszenierung wirklich Spaß macht und was Claus wirklich gut gemacht hat: Wir versuchen, zu zeigen, dass da eine Abstufung in all diesen Gefühlen ist, dass es einen Grund gibt, warum Semele Athamas immer zurückweist und warum er am Anfang von ihr besessen ist, aber sich mehr und mehr der Schwester zuwendet. Und in dieser Inszenierung kommt seine Frustration unglaublich gut raus. Er denkt: Das müsste eigentlich alles funktionieren, ich habe doch alles richtig gemacht, oder? Aber irgendwann muss er einsehen, dass es sinnlos ist, dass seine Pläne auf keinen Fall aufgehen werden. Schon traurig irgendwie.
BR-KLASSIK: Sie sind Countertenor, aber auch Breakdancer, Influencer mit 166.000 Followern, Luxusmarken-Model – wie geht es Ihnen in diesen Feldern?
Jakub Józef Orliński als breakdancender Athamas in Händels "Semele" | Bildquelle: Monika Rittershaus Jakub Józef Orliński: Das ist wundervoll. Klar, die Musik steht an erster Stelle, denn damit habe ich angefangen, aber eigentlich habe ich in so vielen verschiedenen Bereichen angefangen, dass es für mich natürlich ist, so viel Unterschiedliches zu machen. Musik war immer allgegenwärtig, aber Extremsport zum Beispiel auch. Skaten, Capoeira, Snowboarden, Skifahren. Und dann natürlich noch Breakdance. Ich würde sagen, in all diesen Aktivitäten habe ich eigentlich nach mir selbst gesucht – und ich habe mich schließlich auch gefunden. Im Gesang, aber auch im Sport. Breakdance ist auch eine Kunstform, eine andere Möglichkeit, mich auszudrücken und das ist ja mein Anliegen als Künstler, mich in unterschiedlicher Art und Weise auszudrücken. Manchmal will man sich halt nicht nur mit einer Sache beschäftigen, sondern über den Tellerrand schauen.
Ich habe in all dem eigentlich nach mir selbst gesucht und auch mich gefunden.
Durch das Breakdancen habe ich dann erste Fotoshootings für Streetwear-Kampagnen bekommen und als ich mit der Musik erste Erfolge gefeiert habe, haben plötzlich große Fashionmagazine angerufen, und wollten Fotostrecken und Porträts über mich machen. Und das macht Spaß, denn so kann ich die Klassische Musik einem breiteren Publikum nahebringen, auf unaufdringliche Weise, denke ich. Genau das ist meine Art, Dinge zu tun. Es zwingt mich auch keiner zum Breakdance zu gehen. Ich mache das einfach, weil es mein Lifestyle ist. Ich versuche nicht, ein gutes Produkt zu sein, dass sich prima verkauft, sondern versuche einfach, mir treu zu bleiben. Und ich glaube, das authentische Ich wird da mehr bringen, als der Versuch, überall mitzumischen.
BR-KLASSIK übertragt die Premiere von Händels "Semele" im Rahmen der Münchner Opernfestspiele aus dem Prinzregententheater. Am Samstag, den 15. Juli, ab 18:00 Uhr live im Radio.
Eine Premierenkritik hören Sie in "Allegro" am Montag, den 17. Juli, ab 6:05 Uhr.
BR-KLASSIK: Lassen Sie uns über Eitelkeit sprechen, also über das barocke Lebensgefühl überhaupt, die Liebe zur Schönheit auf der einen und das Bewusstsein für die Vergänglichkeit auf der anderen Seite. Hand aufs Herz: Ist Vergänglichkeit etwas, über das Sie nachdenken?
Jakub Józef Orliński: Ja, darüber denke ich nach. Denn es ist einfach so: ich will kein alter Countertenor sein. Ich habe das von Anbeginn meiner Karriere gesagt, ich will nicht 60 sein und als Countertenor auftreten. Das heißt, ich muss weise Entscheidungen treffen. Denn man denkt, das Leben sei lang, aber das ist es nicht. Es geht alles so schnell. Ich dachte neulich, ich habe gerade erst an der Met gesungen – das ist schon wieder zwei Jahre her. Alles ist nur der sprichwörtliche Wimpernschlag, und ich erlebe unglaubliche Dinge auf meinem Weg – aber es geht alles so schnell. Und ja, ich will mit tollen Leuten zusammenarbeiten, ich will immer noch besser und besser und besser werden, weil ich immer noch jung bin. Aber ich muss kluge Entscheidungen treffen, um ein glückliches Leben leben zu können.
Vor knapp 30 Jahren begann in München eine Art Renaissance von Händels Barockopern. Mehr dazu lesen Sie hier.
Sendung: "Festspielzeit" am 15. Juli ab 18:00 Uhr auf BR-KLASSIK