Am 15. Juli steht die zweite Premiere der Münchner Opernfestspiele an: Georg Friedrich Händels "Semele" nach Ovids Metamorphosen, inszeniert von Claus Guth. Im Vorfeld erklärt der Regisseur, was ihn mit München verbindet, warum Händel immer überrascht und wieso "Semele" Oratorium und Oper zugleich ist.
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BR-KLASSIK: Claus Guth, Sie sind Münchner Opernfreunden bestens bekannt von Ihren Inszenierungen im Gärtnerplatztheater, im Prinzregententheater, bei der Biennale, auch an der Bayerischen Staatsoper. Ist das wie Nachhausekommen?
Claus Guth: Ja, ich treffe jetzt viele Menschen von Bühne und Technik wieder, die ich von früher kenne. Ich habe den Everding-Regiestudiengang hier in München gemacht und dazu gehörte auch eine zweijährige Arbeit in allen Abteilungen des Theaters. Und jetzt, wo ich das Prinzregententheater nach rund 20 Jahren wieder betrete, ist jede Ecke voll von Erinnerungen. Damals gab es die Bühne noch gar nicht. Es war ja erst die Initiative von August Everding, das wirklich wieder zum bespielbaren Theater zu machen. Und wir waren die ganze Zeit live dabei, als dieses Theater in Betrieb genommen wurde. Insofern ist es sehr schön, hierher zurückzukehren.
Im Rahmen des "Ja, Mai!-Festivals der Bayerischen Staatsoper hat Claus Guth 2022 die Oper "Bluthaus" mit Musik von Georg Friedrich Haas und Claudio Monteverdi in Szene gesetzt. Die Kritik lesen Sie hier.
Das Stück passt in keine Schublade.
BR-KLASSIK: Auf die Partitur von "Semele" schrieb Händel: "After the Manner of an Oratorio". Also: Oper oder Oratorium? Was hat Händel mit dieser ungewöhnlichen Gattungsbezeichnung beabsichtigt?
Claus Guth: Es ist tatsächlich ein merkwürdiger Zwitter. Ich habe ja schon einige Oratorien und Opern von Händel inszeniert, aber so etwas ist mir bislang noch nicht begegnet. Die Form ist sehr ungewöhnlich, was wohl auch daran liegt, dass der Stoff aus der griechischen Mythologie stammt. Das hat Händel selten gemacht, die Oratorien folgen ja meist biblischen Stoffen. Aber dadurch landen wir hier, vor allem auf der Ebene der Götter im zweiten Akt, fast in der Comedy. Es wird plötzlich ungewöhnlich leicht, sehr theatralisch und extrovertiert. Entsprechend ist der Chor weniger bestimmend als in den Oratorien sonst üblich, eher zurückhaltend kommentierend. Andererseits gestaltet Händel die Arien deutlich virtuoser als er es in anderen Oratorien tut. Somit liegt "Semele" irgendwo zwischen den Gattungen. Das Stück passt in keine Schublade, das wollte Händel wohl mit diesem etwas rätselhaften Titel andeuten.
BR-KLASSIK: Händel verlegt sich in dieser Zeit aufs Oratorium. Weil er von der intriganten Londoner Opernszene genug hatte? Oder weil er sich von festgefahrenen Klischees der opera seria distanzieren wollte? Oder beides?
Claus Guth: Ja, und vielleicht noch ein drittes: Er hat kurz zuvor den "Messias" fertig gestellt, das ist natürlich ein massives Schwergewicht. Und manchmal habe ich den Eindruck, als ob er sich mit "Semele" davon erholt hätte. Den ersten Akt hatte Händel in fünf Tagen komponiert und für die anderen brauchte er auch nicht wesentlich länger, so eine Art Entspannungsübung also. Aber natürlich mit der Händelschen Genialität, die sich hier permanent in überraschenden musikalischen Wendungen offenbart. Plötzlich entsteht ein Quartett aus dem Nichts und plötzlich bin ich wieder in einem Accompagnato – es sind teilweise ganz wüste Übergänge, die tatsächlich aus dem traditionellen Muster ausbrechen. Gleichzeitig ist dieses Stück für meinen Geschmack deutlich weniger düster als andere, dramaturgisch vielleicht auch etwas weniger zwingend in der Geschichte, dafür aber verspielter und mit einer schönen Leichtigkeit, die man sonst so bei Händel gar nicht so oft findet.
BR-KLASSIK: Sie haben allerdings vor diesem "Sonderfall" Semele auch ganz klassische, biblische Oratorien wie "Messias", "Saul" oder "Jephta" szenisch realisiert. Ist Händels Musik für Sie immer Theater, immer szenisch gedacht?
Claus Guth: Ja, ganz extrem. Wenn ich Händel nur im Radio höre, kann ich schon nicht mehr stillsitzen. Händel bewegt mich im wörtlich physischen Sinne, aber auch im emotional seelischen Sinne immer sofort und löst eine riesige Bilderflut in mir aus. Ich kann nicht verstehen, dass manche Leute Händels Arien als austauschbar oder wie vom Fließband empfinden. Während bei Mozart jeder gleich vom "Genie" spricht, habe ich das von Händel eigentlich noch nie gehört. Aber das ist absolut der Fall! Ich jedenfalls staune von vorne bis hinten, und ich kann gar nicht begreifen, wie viel diesem Menschen eingefallen ist. Insofern ist Händel für mich immer Feuerwerk!
Unter Sir Peter Jonas gab es 1994 -2006 an der Bayerischen Staatsoper einen Barock-Opern-Schwerpunkt. Wie Händel damals München im Sturm eroberte, lesen Sie hier.
BR-KLASSIK: Es geht um die Königstochter Semele, die von Jupiter in Adlergestalt entführt wird "zu endlosen Liebesfreuden", wie es im Libretto heißt. Sie will aber mehr, sie will den Geliebten in seiner wahren Gestalt sehen und stirbt dann an der Gewalt dieser göttlichen Offenbarung. Was ist Semele für eine Frau?
Claus Guth inszeniert Händels Oper "Semele" bei den Münchner Opernfestspielen. | Bildquelle: Monika Ritterhaus Claus Guth: Für mich ist Semele zunächst eine Frau, die in einem recht hermetischen System aufwächst. Auf der arrangierten Hochzeit zu Beginn hat man den Eindruck, dass die jungen Leute wie nach einem Masterplan der Eltern agieren, fast wie Marionetten. Semele ist anders. Sie glaubt, dass es hinter dieser sterilen Realität etwas anderes gibt: eine emotionalere, wildere, irrationalere Welt, die nicht so reglementiert ist und den Gesetzen der Anarchie und Liebe gehorcht. Sie macht sich auf die Suche und wird dabei immer weitergetrieben, kann nicht aufhören – ganz wie bei einem Drogenexperiment. Es ist so, als ob sie sich mit einem Schlag aus dem Bürgerlichen radikal verabschiedete und dabei die Brücken soweit einreißt, dass sie den Weg nicht mehr zurückfindet, selbst wenn sie wollte. Insofern ist für mich diese Suche nach Intensität, nach wahrhaftem Leben auch ein künstlerischer, ein kreativer Vorgang. Semele ist ein Mensch, der mehr will. Aber wir sehen, wie am Ende das System gnadenlos weiterläuft und so jemanden dann einfach links liegen lässt. Semele ist draufgegangen, aber "the show must go on". Wir erleben also einen Ausbruchsversuch, der aber das System an sich nicht erschüttert.
Händel bewegt mich im wörtlich physischen Sinne.
BR-KLASSIK: Welche Rolle spielt Jupiter bei Ihnen - ist er eher Gott oder eher menschlich?
Claus Guth: Es ist vielleicht eine Reise vom einen zum andern. Zunächst lasse ich ihn nur in seiner Adlergestalt erscheinen. Er ist also eine Chimäre, eine Traumvorstellung von Semele, die dann immer mehr Gestalt annimmt. In der Inszenierung wird man sehen, wie Semele im Festsaal ihrer eigenen Hochzeit mit der Axt ein riesiges Loch in die weiße Wand schlägt. Gleichzeitig sieht man, wie sich plötzlich zu jedem Gast ein Schattenmensch dazugesellt, als ob hier das Unterbewusste eindringen würde. Insofern ist für mich diese Jupiterfigur natürlich sehr aus der Perspektive von Semele gesehen, das ist eine Ausbruchs-Wunschphantasie, eine fixe Idee, die sich dann aber im zweiten Akt materialisiert. Am Anfang kann sie Jupiter also noch nicht mal sehen, sondern nur seine Kraft im Raum spüren, und am Ende sitzen sie wie ein zerstrittenes Ehepaar nebeneinander, da wird es superkonkret und superwild und superreal. Also die Figur vermenschlicht sich, sie wird immer konkreter. Es wäre theatralisch ja auch langweilig, den ganzen Abend einem Geist hinterherzujagen und außerdem erleben wir so eine typische Beziehungsentwicklung: Dass uns ein Mensch vielleicht irgendwann zu banal wird, dass er zu bekannt ist und wir uns nach der Dimension zurücksehen, wie wir ihn uns erträumt oder idealisiert haben. Das steckt da für mich auch drin.
Was Sie insgesamt bei der Neuproduktion von Händels "Semele" in München erwartet, erfahren Sie hier.
BR-KLASSIK: Am Ende steht trotz allem ein Happy End, denn der Gott des Weines ist ja aus dieser unglücklichen Liebe hervorgegangen und der soll den Menschen laut Libretto ein Vergnügen bringen, "das mächtiger als Liebe". Also: Prost und alles ist gut?
Claus Guth: Ja und nein, wir sehen zwei Dinge gleichzeitig: Einerseits wiederholt die Gesellschaft das Hochzeitsfest gnadenlos, nur mit einer anderen Braut, und hier wird durchaus gefeiert – auch wenn es wie ein Abziehbild wirkt und man sich vorstellt, dass jede Hochzeit an diesem Ort mehr oder weniger identisch ist mit austauschbaren Menschen. Parallel sehe ich aber eine Semele, die bei mir zwar nicht im klassischen Sinne stirbt, die aber einen Blick hinter den Horizont geworfen hat. Plötzlich ist sie wieder am selben Ort, aber mit einem Innenleben, das sie weit weg katapultiert hat, wo es keine Kontaktmöglichkeit mehr gibt. Sprachlos geworden sitzt sie auf dieser Hochzeit, die mal ihre eigene war und jetzt ist sie plötzlich ausgetauscht worden. Umso schöner ist diese Metaphorik, dass sie die Mutter des Dionysos ist, die diese Welt der Konstruktion und des planvollen Denkens durchbrochen hat und radikal in die Welt des Unterbewussten und Unberechenbaren aufgebrochen ist. Sie ist dabei seelisch verbrannt, hat durch diese Reise aber uns ermöglicht, diese Zustände des Rausches und der Irrationalität – wenn auch dosiert – zu erfahren. Es ist wie eine Tür, die sie geöffnet hat.
Am 15. Juli übertragt BR-KLASSIK Georg Friedrich Händels Oper "Semele" im Rahmen der Münchner Opernfestspiele live ab 18:00 Uhr in der "Festspielzeit".
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