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Top Ten – die besten Jazz-Alben 2024 Unsere Favoriten des Jahres

Jazz aus den USA, Chile, Mexiko, Israel und anderswo – die Top Ten der Jazz-Alben 2024 sind wieder eine internationale Angelegenheit, ausgesucht von unserer Jazzredaktion.

Eine Frau hört Musik | Bildquelle: picture alliance/ Westend61, Pau Cardellach Lliso

Bildquelle: picture alliance/ Westend61, Pau Cardellach Lliso

Melissa Aldana: "Echoes of the inner prophet"

Cover: Melissa Aldana - Echoes of the inner prophet | Bildquelle: Blue Note Records Bildquelle: Blue Note Records Bei dieser Musik gerät man sofort in einen Sog des Unerklärlichen und Geheimnisvollen. Wenn sich die schwebenden Klänge der Band mit dem flötenartigen Tenorsaxophonton von Melissa Aldana verbinden, entsteht ein luftiges Gewebe, das – wie von einer sanften Brise bewegt – fortwährend neue, überraschende, in jedem Moment bewegliche Gebilde hervorbringt. Man findet sich im Bann einer Musik, die sich konsequent einer klaren Eindeutigkeit entzieht.
Die chilenische Musikerin mit Wohnsitz in New York gibt zu erkennen, dass der 2023 verstorbene Jahrhundertmusiker Wayne Shorter ihr, im Albumtitel erwähnter, innerer Prophet ist. Wenn sie an ihn denke, denke sie an Farben und seinen einzigartigen Umgang mit Raum, musikalischer Erzählkunst und Kommunikation. Von ihm inspiriert erreicht Melissa Aldana auf ihrem siebten Album im Zusammenspiel mit ihrem großartigen Quintett eine bisher noch nicht dagewesene, einzigartige Ebene der Intensität in Tonfall und musikalischem Selbstausdruck.
Beate Sampson

Reinier Baas/Ben van Gelder: "This is water"

Cover - Reinier Baas & Ben van Gelder: This is Water | Bildquelle: Doyoumind?Records Bildquelle: Doyoumind?Records Das ist Musik, die sofort gefangen nimmt. Sie ist im selben Moment kraftvoll und filigran, rau und zärtlich. Ein pochender Groove swingt, während Klänge wie Honig ins Ohr geträufelt werden. Jeder Ton ist spannend und ungeheuer vital – ob in flirrenden Saxophon-Kaskaden oder in repetitiven Rhythmuspatterns von der Gitarre. In der ganz eigenen, spielerischen Ästhetik von E-Gitarrist Reinier Baas und Altsaxophonist Ben van Gelder greifen und fließen das Hochpoetische und das Handfeste permanent ineinander. Der Albumtitel "This is Water" bezieht sich auf eine legendäre Rede, die der Amerikaner David Foster Wallace, Autor des Bestsellers "The Infinite Jest", 2005 vor dem Abschluss-Jahrgang des Kenyon College gehalten hat. Den ermutigte er dazu, die "Standard-Einstellung" des Denkens hinter sich zu lassen und eine neue, auf ganz friedlich anteilnehmende Weise befreiende Interpretation der Realität zu wagen. Mit ihrem musikalischen "Gegen-den-Strom-Schwimmen" tun die beiden Niederländer genau das.
Beate Sampson

Kenny Barron: "Beyond this Place"

Kenny Barron: Beyond This Place | Bildquelle: Artwork Bildquelle: Artwork Fein, intensiv, einzigartig: Mit dem Alt-Saxophonisten Immanuel Wilkins (*1998) hat sich Pianist Kenny Barron die aktuelle US-amerikanische Jazz-Sensation an seine Seite geholt. Wilkins formt Töne mit sanfter Poesie und erdendem Tiefgang, stets auf der Suche nach dem größtmöglichen Ausdruck. Bereits die allerersten Noten des Klassikers "The Nearness of You" verbreiten eine bannende Atmosphäre, die mich nicht mehr loslässt. Kiyoshi Kitagawa am Bass und Jonathan Blake am Schlagzeug sind langjährige Wegbegleiter des Bandleaders; und auch Vibraphonist Steve Nelson bereichert mit seinem warm-schimmernden Klang den aktuellen "Barron-Sound". Auf "Beyond this Place" versammelt der 1943 in Philadelphia geborene Musiker eine hochkarätige Band um sich. Es ist ein Mehr-Generationen-Treffen, ein hoch spannendes. Meisterhafte Improvisatoren sind sie alle. Die Klangfarben: eine betörende Vielfalt an Nuancen. Die Melodien: schwärmerisch-packend. Die Musiker: umwerfend. Wer das Album "Beyond this Place" hört, dem sei dieses Mantra mit auf den Weg gegeben: hear, enjoy, repeat!
Beatrix Gillmann

Patricia Brennan Septet: "Breaking Stretch"

CD Cover Patricia Brennan Septet | Bildquelle: Pyroclastic Records Bildquelle: Pyroclastic Records Bemerkenswert, wie die mexikanische Vibrafonistin Patricia Brennan an den Kompositionen für ihr Album "Breaking Stretch" und ein handverlesenes Septett getüftelt und gefeilt hat. Im Schreibprozess sind von Noten geschwärzte Partituren entstanden. Sie und ihre Mitstreiter aber setzten das von ihr Erdachte im Studio dann mit viel Herz um. Es ist überreichlich Bewegung, Dynamik und Schwung drin in Brennans Musik, die trotz vieler Stil-Zutaten so organisch tönt und durch ihre abenteuerliche Stimmführung, ihre rhythmischen Strukturen fasziniert. Was Brennan, der Trompeter Adam O'Farrill, die Saxofonisten Jon Irabagon und Mark Shim, der Bassist Kim Cass, der Percussionist Mauricio Herrera und der Schlagzeuger Marcus Gilmore zusammen spielen, vibriert vor Vitalität und ist das beste Beispiel dafür, dass theoretische Überlegungen nicht automatisch zu etwas Verkopftem führen müssen. Patricia Brennan: "Die ganze Mathematik bringt ja kaum etwas, wenn nichts dabei herüber kommt."
Ssirus W. Pakzad

Birgitta Flick & Antje Rößeler: "Sending a Phoenix"

Cover - Birgitta Flick & Antje Rößeler: "Sending a Phoenix" | Bildquelle: wismART Bildquelle: wismART Klavier und Tenorsaxophon, komponierte und improvisierte Töne, ruhig dahinfließende und wild-pulsierende Rhythmen: Das sind die Zutaten des Albums "Sending a Phoenix" von Tenorsaxophonistin Birgitta Flick und Pianistin Antje Rößeler. Klingt erstmal nicht spektakulär, ist es im tönenden Ergebnis aber auf eine zurückhaltende Weise doch. Die beiden in Berlin lebenden Musikerinnen sind Meisterinnen der Kommunikation auf Augenhöhe, deshalb besticht dieses Album besonders durch ein intensives Miteinander, aber auch durch die Freude an der Überraschung. Die Stücke pendeln musikalisch zwischen Kantigkeit und Lieblichkeit, nehmen aber immer wieder erstaunliche Wendungen. Durch wenige Noten oder Akzente eröffnen sich neue Welten, andere Schattierungen und neue tonale Ausdeutungen eines Themas. Frei und lebendig scheinen Birgitta Flick und Antje Rößeler durch ihre eigenen Stücke zu tanzen. Im innigen musikalischen Gespräch verbinden sie äußert gelungen ihre jeweils eigene klangliche Welt. Das macht "Sending a Phoenix" zu einem leise-aufregenden Album des Jahres 2024.
Ulrich Habersetzer

Fred Hersch: "Silent. Listening"

CD Cover Fred Hersch | Bildquelle: ECM Bildquelle: ECM Diese Musik zu hören, ist wie einer aus dem Moment heraus erfundenen Rede zu lauschen. Fast, als könne man dem Pianisten beim Denken zuhören. Eine Musik, die sich spontan ihren Weg zu suchen scheint, ständig offen für neue kleine Abzweigungen und unerwartete Entdeckungen. Und dies ganz egal, ob ein melodisches Thema oder Harmonien vorher schon auf einem Notenblatt standen. Auch Standards wie "Softly As In A Morning Sunrise" von Sigmund Romberg aus den 1920er Jahren sind auf dem Album enthalten – als hohe Kunst, eine Melodie zu spielen und faszinierende Begleit- und Gegenstimmen spontan dazu zu finden. Fred Hersch ist einer der herausragenden Improvisatoren des zeitgenössischen Jazz. Auf diesem Soloalbum, das 2023 im schweizerischen Lugano aufgenommen wurde, nimmt er die Zuhörenden mit in ein besonders leises, nach innen gewandtes Abenteuer.
Roland Spiegel

Nitai Hershkovits: "Call On The Old Wise"

CD Cover "Call on the old wise" | Bildquelle: ECM, Montage: BR Bildquelle: ECM, Montage: BR Es geht um den Flow, diese besondere Bewegung der Töne, durch die ein Künstler mit der Welt in Resonanz tritt. So genau weiß niemand, wie er zustande kommt, auch Nitai Hershkovits nicht. Der israelische Pianist und Wahl-New-Yorker setzte sich im Juni 2022 lediglich an einen feintönenden Flügel im Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano, hatte die vage Idee eines Widmungsprogramms an Vorbilder wie seine Lehrerin Suzan Cohen und überließ sich der Musik. Am Ende hatte er bald zwanzig Themen in musikalische Albumblätter verwandelt, in Lieder ohne Worte, die sich zu einem im Spannungsbogen stimmigen Recital zusammenfügten. Es sind kleine Stücke, melodisch und motivisch ansprechend, fragil in der Struktur, mit zarter Bestimmtheit im Anschlag. Man ahnt die Klangtraditionen seiner Heimat ebenso wie das Urbane als Motivanker. Nitai Hershkovits verbeugt sich vor den Alten und empfiehlt sich zugleich als Junger, der die Linien umsichtig fortführt. Im Fluss der Gedanken, der Gefühle, der Resonanz.
Ralf Dombrowski

Sara Serpa: "Encounters and Collisions"

Cover - Sara Serpa: Encounters and Collisions | Bildquelle: Biophilia Records Bildquelle: Biophilia Records Sara Serpa kommt aus Portugal, hat in Boston studiert und lebt jetzt als Jazzsängerin in New York. Ihrer Biografie in Tönen und Geräuschen kann man auf ihrem Album "Encounters and Collisions" hören. In neun Stories und neun Kompositionen beschreibt Serpa auf berührend persönliche Art ihren Alltag: von kalten, dunklen Tagen im herbstlichen Boston, über die unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten in Amerika und Portugal, bis hin zur Schilderung der Geburt ihres Sohnes in einem New Yorker Krankenhaus und zum Telefonanruf aus Portugal, der sie über den bevorstehenden Tod des Vaters informiert. Auf Englisch, mit portugiesischem Akzent erzählt Serpa diese Geschichten, begleitet von Straßen- oder Maschinengeräuschen. Die Kompositionen greifen die Themen der Stories auf, verarbeiten sie auf sanft-avantgardistische Art. Drei herausragende Persönlichkeiten der New Yorker Szene begleiten Serpas Stimme: Pianistin Angelica Sanchez, Tenorsaxophonistin Ingrid Laubrock und Cellist Erik Friedlander. "Encounters and Collisions" ist wohl einzigartig unter den Jazz-Neuerscheinungen 2024.
Ulrich Habersetzer

Art Tatum: "Jewels in the Treasure Box. The 1953 Chicago Blue Note Jazz Club Recordings"

Art Tatum: Jewels In The Treasure Box - The 1953 Chicago Blue Note Jazz Club Recordings | Bildquelle: Resonance Bildquelle: Resonance 1953 fischte Art Tatum in einem Chicagoer Club unbegleitet und im Trio mit dem swingenden Gitarristen Everett Barksdale und dem summenden Bassisten Slam Stewart Songs aus dem Great American Songbook und verwandelte sie in funkelnde Juwelen. Dieser neu entdeckte Schatz und auf 3 CDs bzw. LPs mit einem sehr ansprechenden Beiheft versehen ist eine wertvolle Ergänzung zu den Studioaufnahmen des Spätwerks des damals größten Klaviervirtuosen des Jazz. Tatum bedeutet rückwärts gelesen "mutat" (lat.: "Er verändert"). Standard-Themen erfuhren unter seinen Händen die subtilsten Verwandlungen. Reharmonisiert, paraphrasiert, mit witzigen Zitaten angereichert, in barocker Lebensfülle vorgetragen und von wahrhaft verschwenderischer Ornamentik umrankt, klingen die Themen stets durch. Sie waren ihm die Essenz, nicht ein Sprungbrett für thematisch entlegene Improvisation. Man begreift, dass der große Charlie Parker zeitweilig als Tellerwäscher arbeitete, nur um in einem Club jeden Abend Tatum zu hören.
Marcus A. Woelfle

Meshell Ndegeocello: "No More Water"

Love | Bildquelle: Meshell Ndegeocello - Topic (via YouTube) Bildquelle: Meshell Ndegeocello - Topic (via YouTube) Bewegende Töne mit starker gesellschaftspolitischer Dimension: Die 1968 geborene, US-amerikanische Bassistin, Sängerin und Komponistin hat dem afroamerikanischen Dichter James Baldwin ein komplettes Doppelalbum gewidmet. Im Untertitel heißt es "The Gospel of James Baldwin". Es erschien am 2. August 2024, dem 100. Geburtstag des 1987 verstorbenen Dichters, der eine bedeutende Figur der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung war und zudem in Romanen wie "Just Above My Head" ("Zum Greifen nah") Homosexualität zum Thema seiner Werke machte. Mit fesselnden Melodien (etwa in dem Song "Love"), Background-Chören, sattem Groove und Spoken-Word-Einlagen von Künstler:innen wie Staceyann Chin schafft Ndegeocello ein wetterleuchtend intensives Kaleidoskop unterschiedlichster Stimmungen. Besonders bewegend sind dabei auch ganz leise Momente – etwa ein Song, in dem die Leaderin mit erdig-sanfter Stimme einen imaginierten "Officer" anfleht, die Waffe sinken zu lassen: "I know you’re afraid of me, but look at my hands, please don’t shoot me." Musik als ungebrochen aktuelles, beseeltes afroamerikanisches Statement.
Roland Spiegel

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