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Das Südtirol Jazzfestival 2023 Im Garten der Entdeckungen

Ein Neuanfang mit jungem Programmgestalter-Team. Musik, die groovte, rockte und packenden Drive hatte, durchzog das Südtirol-Jazzfestival 2023 in und um Bozen. Und es gab einige besondere lyrische Momente, etwa nach einer Gondelfahrt auf den Ritten mit einem jungen Quartett aus München. Entdeckungen konnte man an den zehn Festivaltagen ständig machen.

Tubist Glauco Benedetti bei der musikalischen Eroberung der Franzensfeste beim Südtirol-Jazzfestival 2023. | Bildquelle: Roland Spiegel

Bildquelle: Roland Spiegel

Es war einer jener seltenen Momente, die man sich auch für eine Filmszene nicht schöner hätte ausdenken können. Eine Hotelterrasse in Oberbozen – und dort unter einem kleinen Zeltdach das Quartett der in München lebenden, aus der Mongolei stammenden jungen Pianistin Shuteen Erdenebaatar. Es ist Mittag. Wolken umhüllen die Szene, die in der Nähe vorbei schwebenden Gondeln sieht man kaum noch. Die Pianistin kündigt ein Stück an, das sie als instrumentales Liebeslied für ihren "Boyfriend" geschrieben habe, einen der Musiker in der Band, was sie aber dem Publikum gegenüber nicht erwähnt. Ein lyrisches Stück mit langer E-Piano-Einleitung und einer hinreißend schönen Melodie. Vielleicht zehn Minuten dauert es – und als es verklungen ist, sind die Wolken ringsum aufgelöst. War es nun der Zauber des Jazz oder die Macht der Liebe? Auf jeden Fall einer jener magischen, leisen Momente, die es besonders bei Open-air-Konzerten im eher kleinen Rahmen gibt. Für solche Momente ist das Südtirol-Jazzfestival mit seinem Programm aus vielen jungen Bands an idyllischen Orten wie geschaffen.

Beim Liebeslied lösten sich die Wolken auf

Münchner Export beim Südtirol-Jazzfestival. Das Quartett der Pianistin Shuteen Erdenebaatar auf dem Ritten. Mit Anton Mangold, Saxophon, Nils Kugelmann, Bass, und Valentin Renner, Schlagzeug. | Bildquelle: BR Münchner Export beim Südtirol-Jazzfestival. Das Quartett der Pianistin Shuteen Erdenebaatar auf dem Ritten. | Bildquelle: BR Das Shuteen Erdenebaatar Quartett mit Nils Kugelmann am Bass, Valentin Renner am Schlagzeug, Anton Mangold am Alt- und Sopransaxophon und an der Querflöte sowie der Bandleaderin am E-Piano: eine jener Gruppen, die man sich einprägt (sofern man sie sich nicht schon nach einem ihrer Auftritte in München gemerkt hatte). Denn zum einen schreibt die 25-jährige Bandleaderin ungemein elegante und bewegende Stücke, und zum anderen kann man in dieser Band lauter vorzügliche Solisten hören. Die schweifende Flötenmelodie in einem Stück wie "An answer from the distant hill", ursprünglich von den Bayerischen Alpen inspiriert, klingt in der Open-Air-Umgebung in Südtirol noch ein wenig inniger – und die Pianistin freut sich hinterher, die Komposition an einem Ort gespielt zu haben, der "mitten in den Hills" liege.

Die Nächste Generation ist am Zug

Ein Füllhorn der Kontraste ist das Programm des Südtirol Jazzfestivals stets – und diesmal vielleicht noch etwas mehr als in den vergangenen Jahren. Ein neues Team – Stefan Festini Cucco, Max von Pretz und Roberto Tubaro – wählt jetzt die Bands aus und hat den international enorm vernetzten vorherigen Festivalchef Klaus Widmann abgelöst, der die Veranstaltung fast zwanzig Jahre lang geleitet und letztes Jahr, zum 40-jährigen Bestehen des Festivals, seinen Rückzug angekündigt hatte. Ein kluger Schritt, zum Zeitpunkt großer Erfolge den Stab an die nächste Generation weiterzugeben. Und das ganz offenbar mit dem erwarteten Erfolg: Widmann sagte jetzt, vor dem letzten Konzert der Ausgabe 2023, er sei besonders glücklich, denn diese Ausgabe sei das beste Jazzfestival gewesen, das er bisher erlebt habe.

Grooves, Beats und viel Selbstironie

Die neue Handschrift spürte man mindestens an den letzten fünf Tagen des Festivals, als es viele Bands mit starken Grooves und treibenden Beats gab – und Musik mit auffällig starker, einkomponierter Selbstironie. Und wie in den vergangenen Jahren gab es dabei auch für ständig auf Entdeckungstour befindliche Fachjournalisten und Veranstalter anderer Festivals viel zu entdecken – und für viele im Publikum erst recht. Denn dieses Festival setzt nicht auf amerikanische Stars, wie sie zur selben Zeit etwa in Perugia oder auch Saarbrücken zu erleben waren, sondern auf junge, in Europa ansässige Bands.

Punk-Sounds mit Harfe

Powerjazz mit Harfe. Das Trio Nout mit Harfenistin Raffaelle Rinaudo - und dem Saxophon-Gast Mats Gustafsson im Kapuzinerpark in Bozen. | Bildquelle: Roland Spiegel Powerjazz mit Harfe. Das Trio Nout mit Harfenistin Raffaelle Rinaudo – und dem Saxophon-Gast Mats Gustafsson im Kapuzinerpark in Bozen. | Bildquelle: Roland Spiegel Power und ganz eigenen Witz hatte das französische Trio Nout zu bieten: drei Frauen mit Flöte, Harfe und Schlagzeug – Delphine Joussein, Raffaelle Rinaudo, Blanche Lafuente – sowie einem Repertoire an diversen elektronischen Effekten. Sie trafen hier mit dem schwedischen Saxophonisten Mats Gustafsson zusammen, ließen liebliche Harfenklänge in plötzliche Soundgewitter münden, zertrümmerten liebevoll einen Flohwalzer und zerstoben folkig-liebliche Melodien. Rohe Punk-Energie, Free-Jazz-Klanglust und witzige Überraschungsmomente kennzeichneten diese ausgetickte Kammermusik. Ihre Klangstürme waren weit weniger beunruhigend als die heftigen Regengüsse am späteren Abend – vor denen Bands und Publikum am Hauptspielort, dem Bozener Kapuzinerpark, aber durch ein dichtes und gut gespanntes Zeltdach geschützt waren.

Stromstöße fürs Ohr

Musik voller Drive, Energie und funkelnder Selbstironie war bei dem belgischen Trio Don Kapot zu erleben: Diese Musiker aus Brüssel mit Baritonsaxophon, Bass und Schlagzeug, verstärkt durch den Gitarristen, Keyboarder und Vokalisten Fulco Ottervanger, ließen im Sudhaus, einem Club im Untergeschoss einer Bozener Brauerei, prägnante Melodiekürzel ins Publikum sausen. Und der Baritonsaxophonist, lang, schlank, mit bauchfreiem rotem Pullover, unterstützte jede Phrase, die er blies, mit schier manisch vor- und zurückschnellenden Oberkörperbewegungen: Stromstöße fürs Ohr, Tanzrhythmen für den Körper – und viel Detailwitz für den Kopf.

Europäischer Nachwuchs statt amerikanischer Stars

Südtirol Jazzfestival 2023 | Bildquelle: BR Inniges Duo in den Räumen einer Brennerei. Gitarrist Antoine Boyer und Mundharmonika-Spielerin Yeore Kim in Tramin. | Bildquelle: BR Ein Festival, das wie nur wenige andere auf locker-unterhaltsame Art einen Bildungs- und Kulturauftrag erfüllt: Statt Altbekanntes von großen Stars wiederzukäuen, wird die Vielfalt und der enorme musikalische Reichtum einer jungen, kreativen Szene vorgestellt. Und das Publikum kann den Reiz von Erlebnissen auskosten, die man möglichst wenig vorhersehen kann. Da bleiben dann die schönen Momente im Gedächtnis, wie sie der junge französische Gitarrist Antoine Boyer zusammen mit der Mundharmonika-Spielerin Yeore Kim in einer Brennerei in Tramin mit Instrumentalversionen von Chansons wie "Sous le ciel de Paris" und "Autumn Leaves" schufen: Melodie-Linien, die sich gegenseitig zu umarmen scheinen, gespielt auf einer akustischen Gypsy-Swing-Gitarre und einer chromatischen Mundharmonika. Oder an einem Nachmittag auf der von seltenen alten Bäumen umgebenen Wiese eines Hotelparks das Trio der polnischen Pianistin Joanna Duda: Ganz leise, lyrische Passagen wechseln dabei mit eruptiven Momenten. Ein Spiel, das durchdrungen ist vom reichen Erbe klassischer Klaviermusik und der Lust am improvisatorischen Überraschungsmoment – eingebettet in feine Trio-Kommunikation und leise elektronische Effekte, die mit viel Fingerspitzengefühl eingesetzt sind. Eines der vielen bewegenden Stücke dieses Trios heißt "Chorale": Zikaden zirpten dazu, und der Sound eines Cocktail-Shakers drang immer wieder ins musikalische Geschehen ein – genau so wird man das nirgends mehr wieder hören.

Niedrige Sonne und nächtliche Tiere

Eine lange Liste an Gruppen, die man unbedingt weiterverfolgen sollte, könnte man aus dem Programm dieses Festivals zusammenstellen. Unbedingt auf diese Liste gehört das Duo der kroatischen Schlagzeugerin Lada Obradovic und des französischen Pianisten David Tixier: ergreifend rhythmische und melodisch fesselnde Musik, die immer wieder auch eine existentielle Dimension hat. Dann das norwegisch-schwedische Trio Lav Sol (der Name bedeutet niedrige Sonne), das mit Tuba, Keyboards und Schlagzeug sowie vielen elektronischen Zutaten eine radikal leise Poesie entfalten kann – so dass versonnene Tuba-Melodien zu ganz sparsamen Einzeltönen vom Klavier und zarten Schlagzeug-Rhythmen wie in Atemgeräuschen ausklingen. Und nicht zuletzt: das Quartett Animali Notturni des Kontrabassisten Marco Stagni, das melodiöse Themen mit Tenorsax-Power (Matteo Cuzzolin) und Bluesrock-Jauchzern einer E-Gitarre (Philipp Ossanna) verschränkt, getragen vom Rhythmus des Schlagzeugers Max Plattner. Diese Band gehörte zu denen, die einst durch das Südtirol-Jazzfestival zusammenfanden – in einem Projekt, das Musiker:innen aus Südtirol, Österreich und dem Trentino zusammenbrachte.

Blas-Instrumente erobern friedlich eine Festung

Posaunist Filippo Vignato, der Träger des Jazzpreises Burghausen von 2017, auf der Franzensfeste. | Bildquelle: Roland Spiegel Posaunist Filippo Vignato, der Träger des Jazzpreises Burghausen von 2017, auf der Franzensfeste. 20230708_161644 | Bildquelle: Roland Spiegel Ein besonderer Moment in Sachen Erlebniswert war ein Nachmittag auf der Franzensfeste, jener Festung, die im 19. Jahrhundert zwischen Brixen und dem Brenner mit irrsinnigen Kosten errichtet und doch nie wirklich gebraucht wurde. Drei Musiker bespielten Räume und Innenhöfe der Festung, trennten sich, fanden an anderen Stellen wieder zusammen und ließen das Publikum Bunker, ehemalige Munitionslager und andere Räume durch den Klang von Tuba, Posaune und Saxophon erkunden: eine friedliche Eroberung mit Sinn für Harmonie. Danach fanden sich dieselben drei Musiker in dem hervorragenden Band-Kollektiv "Ghost Horse" wieder: Fesselnde Dynamik, starke Soli und viele Sound-Überraschungen waren von dieser Band zu hören, die sich stilistisch selbst unter "Avant-Jazz" einordnet. In ihr spielten unter anderem der aus den USA stammende und in Südtirol lebende Saxophonist Dan Kinzelman sowie der Posaunist Filippo Vignato mit, der 2017 den Europäischen Burghauser Nachwuchs-Jazzpreis gewann: auch ein Musiker, der sehr gespannt macht auf seinen weiteren Weg. Kreative Geister wie ihn – beim Südtirol-Jazzfestival kann man sie erleben!

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