Erst John Eliot Gardiner, nun Jos van Immerseel: Innerhalb weniger Monate werden zwei Gründerväter von ihren eigenen Ensembles abserviert. Damit setzt die Alte-Musik-Szene ein wichtiges Zeichen gegen Machtmissbrauch.
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Schon wieder wird ein Gründervater von seinem eigenen Orchester abserviert. Im Juli gab "Monteverdi Choir and Orchestra" bekannt, dass sich die berühmten Ensembles von ihrem noch berühmteren Gründer und jahrzehntelangen Leiter John Eliot Gardiner trennen. Der Hintergrund: Gardiner hatte im Sommer 2024 hinter der Bühne einen Sänger geohrfeigt – wegen einer Nichtigkeit. Trotz Entschuldigung und Auszeit kam die Trennung. Offenbar war das Management der Ensembles nicht davon überzeugt, dass der für seine Hitzigkeit bekannte Maestro sein Verhalten grundlegend ändern würde.
Dazu muss man wissen: Gardiner ist eine Legende, seine Interpretationen von Monteverdi, Bach, Beethoven und Berlioz haben Geschichte geschrieben, künstlerisch sind das in vieler Hinsicht unübertroffene Meilensteine. Und die traurige Geschichte geht weiter: Der 81-jährige Gardiner hat mit einigen ihm treu ergebenen Musikerinnen und Musikern ein Konkurrenz-Ensemble gegründet, das mit demselben Werk wie seine Ex-Ensembles auf Tournee geht. Trotz oder Rache?
Jos van Immerseel ist der Gründer des Orchesters "Anima Eterna". Das Alte-Musik-Ensemble hat ihn im September 2025 entlassen. | Bildquelle: © David Samyn Nun trifft es einen zweiten legendären Gründervater der Alte-Musik-Bewegung: Jos van Immerseel. Auch Immerseel hat das Orchester, das ihn nun entlassen hat, gegründet, geprägt und groß gemacht. Das "Anima Eterna" trägt sogar seinen Namen: Anima aeterna ist eine augenzwinkernde lateinische Übersetzung des Namens Immerseel. Jos van Immerseel wird, so heißt es in der Pressemitteilung des Orchesters, "anhaltendes aggressives Verhalten" vorgeworfen.
Die beiden Fälle haben also einiges gemeinsam: Ein charismatischer Pionier gründet Ensembles, die Alte Musik auf historischen Instrumenten spielen, sorgt über Jahrzehnte für künstlerische Höhenflüge, und avanciert zum Übervater, der sich in Stresssituationen offenbar wie ein launischer Alleinherrscher benimmt. Und weil die Überväter "ihre" Ensembles zu Institutionen gemacht haben, die schließlich auch ohne den großen Namen lebensfähig sind, lassen sich die Musikerinnen und Musiker die Allüren der Altmeister irgendwann nicht mehr bieten.
Ist das nun Zufall, dass es innerhalb weniger Monate zweimal Alte-Musik-Ensembles trifft? Manche Leute aus der Alte-Musik-Szene reagieren gekränkt auf diese Frage. Schließlich ist das Selbstbild ein völlig anderes. Viele Ensembles, die historisch informiert auf Instrumenten der Epoche spielen, sind in freier Trägerschaft entstanden. Gegründet aus Eigeninitiative, beseelt von Aufbruchsgeist, Veränderungswille und unternehmerischem Wagemut mussten sie meist Jahrzehnte lang mit wenig oder keiner staatlichen Unterstützung auskommen. Und sich durchsetzen gegen die etablierten, öffentlich finanzierten und gewerkschaftlich abgesicherten Traditionsorchester. Deshalb prägte und prägt die Alte-Musik-Szene oft besonders viel Idealismus. Der teilweise bis zur Selbstausbeutung geht.
Das Gegenteil von Alleinherrschaft am Pult: Das Freiburger Barockorchester ist demokratisch organisiert. | Bildquelle: © Annelies van der Vegt Aber gibt es Konflikte mit autoritären Dirigenten nicht viel häufiger in den etablierten Orchestern? Die Antwort ist: Es kommt schlicht auf die Machtverteilung an. Wer über Geld und Engagements entscheidet, entscheidet auch darüber, was sich ein zürnender Pultstar erlauben darf. Und was eben nicht. In der Alte-Musik-Szene zeigt sich dieses allgemeine Gesetz besonders deutlich, weil hier die Machtstrukturen so extrem unterschiedlich sind. Manche der historisch informierten Ensembles, etwa das exzellente Freiburger Barockorchester, sind durch und durch demokratisch: Wer bei den Freiburgern Mitglied ist, ist auch Gesellschafter und Mit-Unternehmer. In solchen Strukturen liegt die Gefahr nicht in der Unterjochung eines abhängigen Kollektivs rechtloser Freelancer, sondern in endlosen Diskussionen und Fraktionsbildungen. In jedem Fall haben die Musikerinnen und Musiker bei diesem Modell deutlich mehr Macht als ihre festangestellten Kolleginnen und Kollegen von den Philharmonien, Rundfunk- und Staatsorchestern.
Es gibt aber eben auch das krasse Gegenteil: Ensembles, die für jedes Projekt zusammentelefoniert werden. Wer die erwünschte Leistung nicht bringt, wird beim nächsten Mal schlicht nicht mehr engagiert. Das gibt den Gründern und Leitern eine Machtfülle, die sie oft zum Guten und Schlechten zugleich nutzen. Im Guten entstehen kompromisslose künstlerische Höchstleistungen. Im Schlechten wird ein Regime der Angst begünstigt. Dass sich die Musikerinnen und Musiker so etwas immer weniger gefallen lassen, ist ein gutes Zeichen.
Ja, manchmal muss ein Dirigent oder eine Dirigentin auch mal Klartext sprechen. Und manchmal entstehen sogar aus Angst heraus erstaunliche Leistungen. Aber in der Summe schaden die unbeherrschten Herrscher fast immer der eigenen Sache. Druck und Angst schnüren die Kehle zu. Große Kunst entsteht ganz anders: durch gemeinsame Begeisterung.
Sendung: "Leporello" am 18. September 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Freitag, 20.September, 09:17 Uhr
Andreas
Gardiner und Immerseel
Noch schlimmer ist allerdings das Gendern bei br-klassik.
Die Leute, die hier die Logik und deutsche Sprache mit Füßen treten, sollten endlich die rote Karte sehen.
Mittwoch, 18.September, 19:47 Uhr
euphrosine
Thema verfehlt??
Finde ich nicht, mir scheint der Artikel im Gegenteil sehr ausgewogen zu sein. Er benennt verschiedene Aspekte, die alle eine Rolle spielen (eine Leistung als herausragend zu würdigen zieht nicht die Unterwerfung/Herabwürdigung aller anderen nach sich; umHimmels willen!!) und kommt am Ende durchaus zu einem wertenden Fazit - erfeulicherweise aber ohne die allfällige überhebliche "Geht ja gaaaar nicht / wie old school ist das denn?"-Keule.
Mittwoch, 18.September, 18:28 Uhr
Thomas Langner
Artikel Gardiner und...
Kann Herrn Dahlke nur zustimmen, den Artikel fand auch ich zu uneindeutig.
Mir fallen noch so einige weitere Ensembles ein, wo es jedenfalls auch aus künstlerischen Gesichtspunkten m. E. höchste Zeit für einen Generationswechsel ist. Habe vor 2 Jahren William Christie mit seiner Truppe in Gdansk erleben dürfen. Schön war das nicht, eher zum Fremdschämen.
Mittwoch, 18.September, 15:33 Uhr
Wolfgang Dr. Dahlke
Artikel "Gardiner und..."
Der Artikel hält die Ambivalenz der Bewertung des autoritären Verhaltens der Dirigenten brav bis zum Schluss durch: erst werden bei Gardiner die herausragenden Ergebnisse ausgiebig gefeiert, sodass die Unterordnung der Musiker unter die eine geniale Idee des Leiters dem Leser suggeriert wird. Am Ende wird nochmals kenzediert, dass es oft ohne Strenge nicht geht. Resultat: Thema gerfehlt2