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Kritik – Wiener Philharmoniker in Salzburg Andris Nelsons dirigiert Mahlers Neunte

Die Wiener Philharmoniker sind das Residenzorchester der Salzburger Festspiele – im Programm haben sie eine eigene Konzertreihe, zu der sie immer die prominentesten Dirigenten einladen. Nach Herbert Blomstedt war am Wochenende der 45-jährige Lette Andris Nelsons zu Gast und dirigierte Gustav Mahlers Neunte Symphonie.

Andris Nelsons (Dirigent), Wiener Philharmoniker | Bildquelle: © SF / Marco Borrelli

Bildquelle: © SF / Marco Borrelli

Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man an einem heißen Samstagmorgen aus dem Salzburger Getümmel ins Große Festspielhaus kommt und dort erlebt, wie plötzlich Stille einkehrt. Wie man im Verlauf der eineinhalb Stunden, die Gustav Mahler in seinem symphonischen Riesengesang durchmisst, zu völliger Ruhe findet. Wenn die Wiener Philharmoniker das einleitende Seufzermotiv seiner Neunten Symphonie anstimmen, samtig im Streicherklang und geschmeidig im Holz, dann klingt das auch ein bissl wienerisch – schließlich ist Mahler zwei Jahre später, 1911, in Wien gestorben. Dennoch muss man sich hüten, die Essenz seiner letzten vollendeten Symphonie nur auf "Todesahnung" zu reduzieren, wie es Alban Berg getan hat. Schließlich hat Mahler noch mit einer Zehnten angefangen.

Modernität in Mahlers Partitur

Dirigent Andris Nelsons macht die Modernität der Partitur in Richtung Zweite Wiener Schule durchaus hörbar, die harmonischen Kühnheiten und krassen Kontraste. Aber er ist kein bloßer Analytiker, der Mahlers Aus- und Abbrüche mit aller Schärfe herausstellen würde. Wie bei seinem Münchner Bruckner neulich bevorzugt er einen weich-gesanglichen Grundzug, von dem sich die großen Steigerungen umso wirkungsvoller abheben. Lustvoll lässt Nelsons die Pracht einer vergangenen Epoche im riesigen Kopfsatz aufschäumen, bevor Mahler die nostalgische Idylle gleich wieder zerschlägt. Umso mehr genießt Nelsons die kammermusikalischen Inseln der Schönheit – und die Wiener Philharmoniker kosten sie hingebungsvoll aus.

Mit Wiener Schmäh und Wumtata

In den beiden Mittelsätzen geht es dann deutlich deftiger zur Sache. Wie ausgefuchste Dorfmusikanten legen sich die Wiener Philharmoniker in den bräsigen Ländlern und Walzer-Karikaturen des Scherzos ins Zeug, mit Wiener Schmäh und Wumtata. Aber ein Gefühl der Bedrohung bleibt unterschwellig immer spürbar. Auf die Spitze treibt es Mahler dann in der rabenschwarzen Rondo-Burleske – und Nelsons kehrt die ständigen Umbrüche dieses Totentanzes zwischen Kirmes und Galgenhumor pointiert heraus. Ein Parforceritt sondergleichen, den die Wiener da mit einer Brillanz hinlegen, dass man seinen Ohren nicht traut.

Zielpunkt und Herzstück von Mahlers Neunter ist das Schluss-Adagio, das Nelsons wunderbar aussingen lässt. Ein bewegendes Streicher-Unisono in Des-Dur leitet diesen großen Abgesang ein, der mit schmerzlichen Ausbrüchen aufwartet – zu Recht hat Giuseppe Sinopoli von der "Geste des Verlusts" gesprochen, die hier spürbar wird. Am Ende lässt Mahler seine Neunte ätherisch verklingen, in völliger Ruhe und "ersterbend", wie es in der Partitur mehrfach heißt. Nelsons gelingt es, dieses auskomponierte Verlöschen in ein kaum mehr hörbares Pianissimo zu überführen, das ein Gefühl von Transzendenz auslöst.

Erzmusikant Andris Nelsons überzeugt

Dieser Hüne am Pult, der so gar kein Aufhebens von sich macht, ist ein Erzmusikant, der die Wiener Philharmoniker zu höchster Klangkultur animiert. Seine Mahler-Interpretation ist von leidenschaftlicher Intensität, ohne je in hohles Pathos oder sentimentale Attitüde zu verfallen. Die Wiener Philharmoniker haben an diesem Vormittag ihre ganzen Stärken ausgespielt, in Mahlers Welt sind sie hörbar zuhause. Am Ende lange Stille – und man nimmt ein Stück inneren Frieden mit nach Hause, wenn man sich wieder ins turbulente Salzburger Stadtleben stürzt.

Sendung: "Allegro" am 12. August 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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