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Kritik - "Der Idiot" bei den Salzburger Festspielen Diese Oper gehört ins Repertoire!

Ein Roman der Weltliteratur – als Oper: "Der Idiot" von Mieczysław Weinberg ist die ungewöhnlichste und wohl riskanteste Produktion der diesjährigen Festspiele. Mitte der 1980er Jahre machte der polnisch-sowjetische Komponist aus dem Roman von Fjodor Dostojewski sein letztes Werk für die Bühne. Am Freitag hatte "Der Idiot" Premiere – und das Publikum jubelt.

Bogdan Volkov (Fürst Myschkin) in einer Szene aus "Der Idiot" bei den Salzburger Festspielen 2024 | Bildquelle: © SF/Bernd Uhlig

Bildquelle: © SF/Bernd Uhlig

Der sanfte Fürst Myschkin, der brutale Rogoschin, die impulsive Nastassja und die intellektuelle Aglaja: Dostojewski setzt auf krasse Kontraste. Seine Figuren sind bizarre Individualisten. Doch eines eint sie bei aller Unterschiedlichkeit: ihr Gefühlsextremismus. Das ist erstmal keine schlechte Voraussetzung für eine Oper. Andererseits: In Dostojewskis Roman gibt es auf über 800 Seiten vor allem Gespräche. Leute sitzen beisammen und reden. Konversieren im Eisenbahnabteil. Diskutieren im Salon. Flüstern im Krankenzimmer. Immerhin: Manchmal machen sie sich dabei eine Szene. Auch das hat ein gewisses Opernpotenzial. Aber ein idealtypischer Stoff für die Bühne ist Dostojewskis psychologischer Gesellschaftsroman ganz sicher nicht. Eher das Gegenteil.

Jubel trotz schwierigem Werk

Woran liegt es also, dass das Salzburger Publikum, dem ja gern ein gewisser Hang zur Kulinarik unterstellt wird, nach dreieinhalb intensiven Stunden in Jubel ausbricht, inklusive Trampeln und rhythmischem Klatschen? In dieser Aufführung kommt vieles zusammen. Großartige Sänger. Eine Dirigentin, die ihre bedingungslose Identifikation mit der Partitur in eine ebenso inspirierende wie klare Zeichensprache übersetzen kann. Und ein Regisseur, der sich – verglichen mit den meisten seiner übrigen Inszenierungen – diesmal wohltuend zurücknimmt.

Weinberg befreit sich aus Schostakowitschs Schatten

Vor allem anderen aber ist da ungemein kraftvolle Musik. In seiner siebten und letzten Oper, entstanden 1986/87 und vollständig uraufgeführt erst 2013, sieben Jahre nach dem Tod des Komponisten, hat sich Mieczysław Weinberg endgültig aus dem übergroßen Schatten seines Freundes Schostakowitsch befreit. Der hatte Weinberg das Leben gerettet. 1943 erwirkte Schostakowitsch eine Aufenthaltsgenehmigung für den jungen Komponisten, der als Jude vor den Deutschen aus seiner Heimat Polen fliehen musste. Und 1953 verhinderten wohl nur Schostakowitschs Bittbriefe, dass Weinberg dem stalinistischen Terror zum Opfer fiel.

"Der Idiot" in Salzburg

Lesen Sie hier alles über die Premiere von Weinbergs letzter Oper in Salzburg.

Eine dunkle, packende Dringlichkeit

Kein Wunder, dass Weinbergs Musik der seines engen Freundes und Förderers verpflichtet ist. Deutlich hörbar ist Schostakowitschs Einfluss etwa in "Die Passagierin" (1968), der wohl am häufigsten gespielten Oper Weinbergs. Auf bewegende Weise macht sie die Erinnerung an Auschwitz zum Thema (erst im März gab es eine erfolgreiche Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper). Verglichen damit klingt "Der Idiot", 20 Jahre später komponiert, sehr viel eigenständiger. Zugleich reicher, herber, komplexer. Und trotzdem – und das macht die Größe dieser Musik aus – womöglich noch intensiver. An Schostakowitsch erinnert hier weniger die Diktion im einzelnen als das übergeordnete emotionale Klima: eine dunkle, packende, unter die Haut gehende Dringlichkeit.

Gražinytė-Tylas Dirigat: tänzerisch, elegant, klar

Bei aller Schärfe bleibt Weinberg letztlich der Tonalität verbunden, seine Musik ist entschieden modern, aber keineswegs avantgardistisch. Und er scheut nicht die große Geste: Lange, gezackte Streicherlinien, drohende Bläserfanfaren, insistierende Nervosität und zarte Lyrik übertragen die extremen Gefühlszustände der Protagonisten aufs Publikum. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert das mit tänzerischer Eleganz und stringenter Klarheit. Und motiviert die Philharmoniker, mit ihrer wienerischen Klangsinnlichkeit noch die widerspenstigsten Passagen mit Ausdruck zu erfüllen.

Salzburger Festspiele

Alles über die diesjährigen Salzburger Festspiele, die Radioübertragungen bei BR-KLASSIK sowie Videostreams finden Sie im Salzburg-Dossier.

Diesmal wenig rätselhaft: Warlikowskis Regie

Szene aus Weinbergs "Der Idiot" bei den Salzburger Festspielen 2024. | Bildquelle: Bernd Uhlig Bildquelle: Bernd Uhlig Regisseur Krzysztof Warlikowski bespielt virtuos die schier endlos breite Bühne der Felsenreitschule. In einem zeitlosen Art-Deko-Raum lässt er diesmal seiner Vorliebe für rätselhafte Assoziationen nur relativ wenig Raum. Ganz ohne prätentiöse Chiffren geht's natürlich nicht bei Warlikowski: Warum Fürst Myschkin physikalische Gleichungen von Einstein und Newton an eine riesige Tafel kritzelt, darüber kann man sich mehr oder weniger gewinnbringend den Kopf zerbrechen. Oder man verfolgt stattdessen, was sehr viel ergiebiger ist, die starke Personenführung. Die macht vor allem den psychologischen Antrieb der Figuren sichtbar. Die äußere Handlung dagegen (etwa der Mordversuch Rogoschins an Myschkin) tritt dahinter ganz zurück. Das ist überzeugend gemacht.

Sängerinnen und Sänger machen den Abend zum Volltreffer

Zum Volltreffer wird der Abend durch die exzellenten Sängerinnen und Sänger. Selbst kleinere Rollen wie Lebedjew (Jurii Samoilov) oder Ganja (Pavol Breslik) sind stark besetzt. Düstere, aber stets kontrollierte Kraft hat Vladislav Sulimsky als Rogoschin: seelenvolle Gutmütigkeit und rohe Gewalt wohnen hier nah beieinander. Xenia Puskarz Thomas zeichnet die Aglaja mit ihrem eher hellen, leuchtenden Mezzo als kluge, auf Unabhängigkeit bedachte Frau. Dagegen setzt Aušrinė Stundytė die dunkel lodernde Farbenpracht ihres dramatischen Soprans: Ihr Rollenporträt zeigt Nastassja als innerlich verwundete Frau, die in allen Widersprüchen ihrer impulsiven Leidenschaftlichkeit folgt.

Genau dafür gibt es Festspiele

Auch stimmlich im extremen Gegensatz dazu steht Bogdan Volkov als Fürst Myschkin. Die Hauptfigur, halb Christus, halb Don Quixote, hat an der symbolischen und philosophischen Fracht, die ihr von Dostojewski aufgeladen wird, einiges zu tragen. Volkov bewältigt das mit bewundernswerter Souveränität und Natürlichkeit. Sein ausdruckvoller lyrischer Tenor berührt innig im piano und bleibt doch allen Orchesterstürmen gewachsen. Auch schauspielerisch eine starke Leistung: Den epileptischen Anfall spielt er mit aller gebotenen Heftigkeit, aber ohne zu überzeichnen. Genau dafür gibt es Festspiele: Um unbekannte Opern zu spielen, die ins Repertoire gehören. Und um den Beweis dafür anzutreten – durch die Qualität der Aufführung.

Sendung: "Piazza" am 3. August 2024 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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