BR-KLASSIK

Inhalt

Kritik – "Parsifal" in Bayreuth Braucht jemand eine Brille?

Bildersturm im Brillenglas: Der neue Bayreuther "Parsifal" verbindet das reale Bühnengeschehen mit "Augmented Reality". Aber nur 330 der knapp 2.000 Zuschauenden haben eine Video-Brille und kommen in den Genuss der Pixel-Gewitter, die Regisseur Jay Scheib entfesselt. Bringt das was? Und was bleibt übrig für die Brillenlosen?

Bildquelle: © Enrico Nawrath

Kritik

"Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen 2023

Revolution oder Spielerei? Jedenfalls sind die Dinger schwer, heiß und dunkel. Nach gut vier Stunden Wagner schmerzt nicht nur der Rücken, was normal ist auf den legendär harten Bayreuth-Sitzen, sondern auch der Nasenrücken. Riesenaufwand für die happy few: Weil es zu teuer war, die speziellen Video-Brillen für alle zu beschaffen, gibt's eine Zweiklassengesellschaft in Bayreuth. Dabei hatte Wagner extra die Seitenlogen abgeschafft und mit ansteigenden Sitzreihen möglichst gute Sicht für alle verwirklicht: Das Festspielhaus sollte ein demokratisches Theater sein. Aber sind die happy few wirklich so happy? Was verpasst man ohne Brille?

Herz oder Kristall?

Regie: Jay Scheib, Bühne: Mimi Lien, Kostüm: Meentje Nielsen | Bildquelle: Bayreuther Festspiele/ Enrico Nawrath Bildquelle: Bayreuther Festspiele/ Enrico Nawrath Mehr als 80% im Publikum sehen eine überaus statische, eher unambitionierte, immerhin farbenfrohe Inszenierung. Für die Gralsburg genügt ein riesiger Kranz von Leuchtröhren, der sich in den Bühnenhimmel hebt. Am Boden wird gelegentlich durch ein Wasserbecken gewatet. Quietschbunte Blätter zeigen Klingsors Zaubergarten, ein apokalyptischer Riesenbagger dominiert den dritten Akt. Der Gral ist ein blauer Kristall, eine Art esoterische Energiequelle. Aber dieser Grals-Kristall scheint Unglück zu bringen. Einmal greift Parsifal einer Puppe in die Brust. Daraus holt er einen harten Kristall und ein echtes Herz. Die Botschaft: Wer sich auf begehrte, aber tote Dinge fixiert, seien sie auch heilig wie der Gral oder kostbar wie Kristall, kriegt ein steinernes Herz und verpasst das wahre Leben. Am Schluss zerstört Parsifal den Gral. Und das ist offenbar eine Befreiung: Mit Kundry geht er einer bunten Zukunft entgegen.

Vielleicht läuft gerade ein Fuchs vorbei

Wagners "Parsifal" durch eine Augmented-Reality-Brille in die Welt der Videospiele rücken: So wird Regisseur Jay Scheib die Oper 2023 in Bayreuth inszenieren. Die Brillen bekommt allerdings nur ein Teil des Publikums, es mangelt also an Ausstattung – und das ganz bewusst. | Bildquelle: Bayreuther Festspiele Bildquelle: Bayreuther Festspiele Ohne die Video-Animationen langweilt das ziemlich zähe Herumgestehe. Ganz anders ergeht’s den privilegierten Brillen-Durchblickern. Pausenlos taumeln Computerbilder durch den virtuellen Raum und überlagern die Bühne. Immerzu scheint da was durch den Zuschauerraum zu fliegen: Tauben, Insekten, Sterne, Müll, Kristalle, Hände, Waffen und Blumen. Wer nichts verpassen will, muss auch links oben oder ganz rechts unten nachschauen, was sich tut. Vielleicht läuft da gerade ein Fuchs vorbei. Oder es explodieren ein paar Handgranaten. Wenn man die Video-Brille dann mal absetzt, ist es eigentlich ganz erholsam, dass auf der realen Bühne so wenig passiert.

Penetrante Pixel-Gewitter

der Parsifal-Premiere 2023 Bayreuther Festspiele | Bildquelle: Bayreuther Festspiele/Joshua Higgason Bildquelle: Bayreuther Festspiele/Joshua Higgason Regisseur Jay Scheib benutzt die augmented reality der Video-Brillen wie eine Fortsetzung der Bühnenrequisiten mit anderen Mitteln. Manchmal wird einfach eins zu eins bebildert. Wenn Parsifal einen Schwan tötet, wird gleich ein ganzer Schwanen-Schwarm von Pfeilen durchbohrt, was das virtuelle Blut nur so spritzen lässt. Meist aber wird assoziiert. Dafür klappert der Regisseur die christliche Bilderwelt ab: Schlange steht für Sünde, Lilie für Reinheit, Dornen für Leid. Es gibt Dürer- und Michelangelo-Hände, das Lamm und den brennenden Dornbusch. Im dritten Akt geht’s scharf in Richtung Gesellschaftskritik – Batterien und Müll bedrohen die Umwelt, es herrscht Krieg. Dass dieses Bildgestöber wirklich toll aussähe oder rein vom optischen Effekt her besonders virtuos wäre, kann man allerdings nicht behaupten. Am interessantesten sind die surrealen Traumwelten im zweiten Akt, die an den Garten der Lüste von Hieronymus Bosch erinnern. Da fahren etwa zwei Speere mit Ohren durch den Raum, Körper verbinden sich mit Blüten. Bei solchen Trips ins Unbewusste tun sich faszinierende Möglichkeiten auf. Doch letztlich bleibt das Pixel-Gewitter eine Art Ausstattungstheater im virtuellen Raum – und nervt recht schnell in seiner penetranten Redundanz. Immerhin, ein Anfang, ein reizvolles Experiment. Hier öffnet sich eine Tür. Wirklich erobert sind die unendlichen Weiten des virtuellen Raums für Wagners Gesamtkunstwerk damit aber noch lange nicht.

Geht durch die Hölle und klingt verführerisch schön: Elīna Garanča

Parsifal - Bayreuther Festspiele 2023 | Bildquelle: © Enrico Nawrath Bildquelle: © Enrico Nawrath Den fulminanten Kontrapunkt setzt die musikalische Seite. Das war gesanglich der beste Bayreuther "Parsifal" der letzten zwei Jahrzehnte. Andreas Schager als Einspringer in der Titelrolle ist ja eigentlich ein tenorales Kraftpakt mit etwas gleichförmigem Vibrato. Diesmal singt Schager sehr kultiviert. Immer wieder findet dieser bewundernswert stimmstarke Tenorheld auch psychologische Zwischentöne und zartere Farben. Mehr als souverän gelingt Elīna Garanča die Kundry: Diese Frau geht emotional durch die Hölle und klingt dabei verführerisch schön. Nur die Textverständlichkeit bleibt auf der Strecke. Große Klasse beweist Derek Welton als Amfortas: Ein todkranker König mit kerngesunder Stimme. Wie soll ein Wagner-Sänger singen? Wie Georg Zeppenfeld. Da versteht man jedes Wort. Zeppenfels einzigartige Kunst: Wie kaum ein zweiter Wagner-Sänger der Gegenwart kann er erzählen, durch seine Gestaltung das, wovon er spricht, vergegenwärtigen. Und so hängt man ihm in den endlosen Monologen des Gurnemanz buchstäblich an den Lippen.

Triumphales Debut von Pablo Heras-Casado

Dirigent Pablo Heras-Casado meistert die schwierige Akustik des Festspielhauses gleich bei seinem Debüt. Woran berühmtere Dirigenten immer wieder gescheitert sind, gelingt ihm auf Anhieb: dass Orchester, Sänger und auch der fantastische Chor wirklich gemeinsam atmen. Es wirkt geradezu paradox: Obwohl Heras-Casado schnelle Tempi wählt, wirkt die Musik nie getrieben. Das ist über weite Strecken faszinierend langsame, feierliche Musik, die aber wie durch ein natürliches inneres Gefälle ins Fließen gerät. Wagners raffinierte Klangmischungen sind fein ausgehört, die Phrasen sprechen – auch im Orchester, die Steigerungen führen zum Ziel. Wer braucht eine Brille?

Sendung: "Allegro" am 26. Juli 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (14)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.

Montag, 31.Juli, 11:53 Uhr

Kießling

Dirigent

Leider hatte ich nicht den Eindruck, dass der Dirigent wirklich die Musik bewältigt. Der 3.Akt ist nicht gelungen! Schade, aber unüberhörbar!

Sonntag, 30.Juli, 16:07 Uhr

Karin Beier

Parsifal

Musikalisch wurden schon Höchstleistungen erbracht. Ich konnte den Aufzügen mit Spannung ( Fernsehaufzeichnung) folgen. Da ich mir mit meinem Mann in meinem Alter so eine lange Aufführung nicht mehr zumuten kann, bin ich dankbar, diese ins Wohnzimmer geliefert zu bekommen. Bis auf den zweiten Aufzug, der mir zu schrill erschien, konnte ich mir ein gutes Bild von Ihrem Wagner- Weihefestspiel machen. Wir habe bisher den " Ring" und die meisten anderen Opern von Wagner in unsere"Haustheater" in Chemnitz über die Jahre sehen können. Wir waren auch bei uns immer angenehm überrascht von allen Aufführungen. " Tannhäuser", " Meistersinger" usw. Ich glaube, man will im Stammhaus in Bayreuth immer noch etwas " drauflegen" und das könnte dann ein My zuviel sein. Also, wie gesagt, der 2. Akt farblich zu aufdringlich und etwas zu fulminant. Der geübte und versierte Zuschauer sollte auch noch seine eigene Fantasie gebrauchen können. Ansonsten Danke den Sängern, dem Chor und dem Orchester. MfG

Sonntag, 30.Juli, 01:01 Uhr

Max Hooffacker

Parsifal

Eben! Ein populär gemachter Parsifal, so eine Musik kann man nicht
kaput machen ! Mit solchen Sängern und dem Dirigenten nicht!
Ob der Wagner gegrollt hat, Wurscht,

Donnerstag, 27.Juli, 05:40 Uhr

C.B.

Wie eigentlich immer in Bayreuth unter K.

Visuell einfach zu unattraktiv, um sich wirklich darauf einlassen zu wollen.

Warum ignorieren die Regisseure das kleine Einmaleins ihres Tuns? Nur ein ästhetisch ansprechendes Bühnengeschehen lässt den Zuschauer tiefer in das Werk eintauchen. Alle weiteren Botschaften, die man übermitteln will, gehen verloren, wenn der Zuschauer aufgrund der Hässlichkeit des Gesehenen einen Widerwillen hat, sich mit den Bühnenpersonen zu identifizieren.

Die erhabene Musik Wagners - und dann kommen die Sänger in Trottelkostümen daher. Verstehe das wer will!

Mittwoch, 26.Juli, 22:51 Uhr

Brigitte Steinert

Parsifalpremiere Bayreuth

Auch wir waren zuhause geblieben. Und das war kein Verlust, ganz im Gegenteil. Musikalisch fantastisch - Dirigent, Orchester und Chor waren atemberaubend gut. Und erst die Solisten! Seit langem taten Einspringer einer Produktion so gut wie dieses Mal. Und auch alle gesetzten Solistinnen und Solisten waren fantastisch. Ich weiß nicht, wen ich am meisten hervorheben soll: Die Interpretinnen und Interpreten von Kundry, Gurnemanz, Amfortas, aber auch Parsifal - jede/r großartig auf die eigene Weise. Was mir vor dem Bildschirm besonders gefiel, waren das Schauspiel und die Interaktion der Protagonisten (besonders beeindruckend Gurnemanz und Kundry). Und das war das Verdienst der Regie und der Sänger! Was ich über die AR-Brillen gelesen habe - da ist wohl noch Luft nach oben. Aber Bayreuth ist eine Werkstatt - nach wie vor! Und das sollen sich auch alle Geldgeber, Kritiker und Politiker hinter die Ohren schreiben. Aber wenn es immer wieder solche Highlights gibt, dann ist Oper lebendig

Mittwoch, 26.Juli, 18:17 Uhr

JoMe

Schon traurig - Wagners Bühnenweihfestspiel

Da hat der gute Richard seinerzeit den Parsifal im Vermächtnis zum Bühnenweihfestspiel erklärt, um eben diese "künstlerisch-wertvollen" Missetaten moderner Regisseure an seinem Werk zu verhindern.
Und nun wird an eben der Bühne, der der Parsifal "geweiht" war, genau das gemacht.
Ich denke, das gelegentliche Donnergrollen dieser Tage ist manchmal kein Gewitter. Vielmehr rotiert der Herr Wagner vor Wut im Grabe.

Mittwoch, 26.Juli, 14:19 Uhr

Classen

Oder der Löwe von Berlin läuft über die Bühne.

Wie Weltoffen ist doch Bayreuth geworden. Und alles unter Wagner.

Mittwoch, 26.Juli, 14:08 Uhr

Susanne Overbeck

Parsifal

Eine bessere Kritik

Mittwoch, 26.Juli, 10:57 Uhr

Manfred Irrlitz

Parsival - Bayreuth

Wieder hat die geniale Musik von Wagner die Aufführung gerettet. Alles andere ist Müll.
Vorschlag: Machen Sie konzertante Opern. Das kostet die Hälfte.

Mittwoch, 26.Juli, 09:39 Uhr

Gufo

Brille

Wird die Brille künftig das Statussymbol des fortschrittlichen Wagnerianers sein oder ist sie nur ein Attribut des Hügelbesuchers, der immer Neues, Buntes,Unruhiges braucht,um sich avantgardistisch zu fühlen ?Wird die Brille Wagners Musik (zer)stören oder in andere Dimensionen heben ?Die Zukunft wird zeigen, ob der echte Wagnerianer in der geheiligten Halle der ( rosaroten ) Brille bedarf.

Mittwoch, 26.Juli, 09:36 Uhr

Herby Neubacher

Parsifal

Klingt wie der übliche Regie Schrott Bayreuths. Die letzte gute moderne Ausdeutung Parsifals habe ich auf der Met DVD gesehen die das Weihfestspiel fast wie ein Oratorium inszenierte mit wenig aber symbolisch richtigen Versatzstücken. Dieser Parsifal klingt wie Mätzchen galore. Braucht es nicht.

Mittwoch, 26.Juli, 08:30 Uhr

fristra

Geglückte Parsifal-Premiere

Da meine Frau und ich zu den Glücklichen gehörten, die die Aufführung nur ohne Brille und wegen des "Kartendesasters" zu Hause als Streaming des BR erleben konnten, sahen wir in summa einen phantastisch schönen Parsifal. Ja, in summa, denn neben der wunderbaren Kundry von Elina Garancia, den anderen Sängern (Derek Welton übrigens als Amfortas!), dem Chor wie aus einem Guss und dem unglaublich guten Debüt des Dirigenten überzeugten uns auch die anderen Aspekte der Inszenierung. Bühne, Personenregie, Kostüme und insbesondere der frauenfreundliche Aspekt einer Kundry "mit Perspektive" beim eher Frauenverachtung symbolisierenden Libretto des Parsifal. Das "Bühnenweihfestspiel", abgesehen von seiner meist überirdisch schönen Musik, überhaupt unterhaltsam auf die Bühne zu bringen, gleicht der Quadratur des Kreises. Diesmal scheint sie gelungen. Einziger Wermutstropfen: Eine abscheuliche Buhorgie für das Regie-Team von, ja fast möchte man sagen, unkultivierten Flegeln des Wohlstands.

Mittwoch, 26.Juli, 08:25 Uhr

Gamured

Parsifal Kritik

Danke, dass mal wieder jemand eine Kritik schreibt, der was von der Sache versteht und auch ausführlicher etwas zur musikalischen Seite schreibt.

Mittwoch, 26.Juli, 04:39 Uhr

Trappe

Zeitgeist

Alleine die Tatsache, dass etwa 2 Drittel der obigen Kritik sich nur mit Regie und Bühnenbild auseinandersetzen, zeigt, dass etwas grundlegend verkehrt läuft. Der unerreichte Fischer-Dieskau hat mal so schön gesagt, alle sind Diener der Musik und nicht Herrscher! Das trifft es wohl am Besten.
Bald muss man wohl sagen: Das Bühnenbild und die Regie waren so heutig; nur die Musik hat ja wohl gar nicht gepasst.
Musikalisch dies als besten Parsival des letzten Jahrzehnts zu bezeichnen, spricht für ein eher fragwürdig musikalisches Empfinden der Dame… Unter Thielemann war da ein ganz anderes Feuer interpretatorisch entfacht worden, aber dafür muss man ein bisschen etwas verstehen…

Neu bei BR-KLASSIK

Mehr zum Thema

    AV-Player